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Quattro canti, Palermo, 2015

Als ich vor vielen Jahren mit Rucksack das erste Mal nach Sizilien reiste, legte meine Fähre von Neapel aus spät in der Nacht an. Die Stadtkarte in meinem Reiseführer war angesichts der altstädtischen Struktur der Wege völlig unzureichend. Und so führte mich mein Weg nur Pi mal Daumen in Richtung der Quattro Canti, einer palermitianischen Straßenecke, an der sich die zwei Hauptstraßen schneiden. In diesem Viertel befand sich irgendwo mein Hotel – und mein Reiseführer – siehe oben – bezeichnete die Nachbarschaft als "ungemütlich". Vor dem Teatro Massimo, Italiens größtem Opernhaus und damals aufgrund der Bemühungen des umtriebigen, anti-mafia-gewendeten Bürgermeisters L. Orlando einigermaßen neu restauriert, fasste ich mir ein Herz und fragte trotz meines mittlerweile mediterran nass geschwitzten Reisedresses einige gerade das Theater verlassene, schick gewandete, freundlich dreingrienende Italienerinnen in gebrochenem Italienisch, ob ich wohl auf dem rechten Wege sei. Nun, Quattro Canti hat für Palermo ungefähr die topologische Bedeutung des Doms zu Kölle für die rheinische Stadt. Ein Grinsen und eine handweisende Motivation waren mir also sicher. Schließlich gelangte ich an die nämliche Straßenkreuzung – und war so klug als wie zuvor. Denn das Hotel befand sich mitten im Straßengewühle rund um den Ballaró-Straßenmarkt (Carlsplatz, in die Ecke, schäm Dich was!). Also weiter, ermüdenden Schrittes. Ein paar Meter weiter ein großer Platz. Trotz der späten Stunde war hier die Hölle los. "Ungemütliche" Nachbarschaft, so siehst Du aus. Und wohlgemerkt, das waren auch in Palermo noch andere Zeiten. Der Rucksack drückte inzwischen ein wenig, das Wortspiel vom "Drücksack" kam mir in den Sinn, so müde war ich. Tosende Vespas. Ghettoblasters. Ein Hin und Her. Genau genommen tosten auch die Menschen zu dieser nächtlichen Stunde. Und irgendwo hinter dem Platz führte wohl eine der Straßen in Richtung Hotel. Die Worte legte ich mir zurecht – "Scusate mi, dov'é ...?" – und wandte mich an zwei Jugendliche, die wohl recht vertrauenserweckend aussahen. Nachdem ich meinen Satz zur Hälfte vorgetragen hatte, blickte ich in leere Gesichter. Mein bemühtes, extrem ausbaufähiges Standarditalienisch und der lebendige sizilianische Dialekt waren wohl kein "match in heaven". Und Schultern zucken im Süden tatsächlich expressiver als bei uns im sachten Norden. Würde ich diese Nacht wohl mein blondes Haupt in einer schmalen Seitenstraße auf meinen Rucksack betten und mich morgens nicht mehr erheben? Doch da schälte sich aus dem Hintergrund ein Greis ins Licht der runtergedimmten Straßenlaterne, mit irgendwie monochromer Haut und die Faltenstruktur ein Rollenmodell für Keith Richards. Er hatte wohl den Namen des Hotels innerhalb meiner zurechtgelegten Frage vernommen. Doch er sprach mich nicht an, sondern lockte einfach nur mit dem Finger. Nun denn, wenn das Schicksal ruft, dann muss man folgen. Eine Schneise schien sich zu öffnen durch das tosende Leben – Moses? – und ich folgte dem alten Herren durch immer enger werdende Gassen in die Eingeweide der alten Stadt. Schon bald ward es totenstill um uns, und der Hund, der bellte, klang doch schon arg nach Zerberus. Der Weg wand sich. "Wann sind wir denn endlich da, wann sind wir da?" sangen meine 1.000 Seelen im Chor. Der Greis trottete einfach weiter, wandte sich nicht um, lief schnurstracks in die Unterwelt. Wie stille Silbererze gingen wir als Adern durch das Dunkel, kommentierte Rilke: "Zwischen Wurzeln entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen, und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel." Dann ein Licht, ein Klang von Metall an Metall, der Portier des Hotels schloss gerade das Tor. Nun drehte der alte Mann vor mir eine halbe Pirouette, grinste mich zweidrittelzähnig an und reicherte – für mich unverständlich – einige wenige Konsonanten mit klangvollen Vokalen an. Ich drückte ihm einige Münzen in die Hand, das Herz voller Dankbarkeit. So ungemütlich war die Nachbarschaft gar nicht. Cave Reiseführer.

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Uploaded on December 30, 2015