Leb wohl
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Er sagt übrigens auch: Leb wohl. Er sagt: Es war vieles sehr schön. Er schluchzt vor sich hin (ohne Drüsensekretion oder damit, es ist das Nämliche): Wie schade, daß ich gehen muß. Er beklagt sein Geschick, sein Ungeschick. Er ist kein Held. Er ist noch weniger ein Erkenntnistheoretiker. Wie tief sein Ekel sei, wie unüberwindlich seine Todesneigung, wie triumphierend momentweise sein im Abtreten gegen die Realität siegreiches Ich sich gebärde, wie großartig er sich dünke im Aufsichnehmen einer Einsamkeit, die nun aus einer relativen zur absoluten wird, wie lange der Entschluß herangereift sei oder mit welch jäher Gewaltsamkeit er gefaßt wurde, wie hoch er sich aufgestiegen erfahre oder wie tief gefallen -: Der Suizidant ist ein Mensch. Schon gehört er der Erde, aber noch gehört die Erde ihm – und sie ist schön.
Jean Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod / On Suicide: A Discourse on Voluntary Death
Leb wohl
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Er sagt übrigens auch: Leb wohl. Er sagt: Es war vieles sehr schön. Er schluchzt vor sich hin (ohne Drüsensekretion oder damit, es ist das Nämliche): Wie schade, daß ich gehen muß. Er beklagt sein Geschick, sein Ungeschick. Er ist kein Held. Er ist noch weniger ein Erkenntnistheoretiker. Wie tief sein Ekel sei, wie unüberwindlich seine Todesneigung, wie triumphierend momentweise sein im Abtreten gegen die Realität siegreiches Ich sich gebärde, wie großartig er sich dünke im Aufsichnehmen einer Einsamkeit, die nun aus einer relativen zur absoluten wird, wie lange der Entschluß herangereift sei oder mit welch jäher Gewaltsamkeit er gefaßt wurde, wie hoch er sich aufgestiegen erfahre oder wie tief gefallen -: Der Suizidant ist ein Mensch. Schon gehört er der Erde, aber noch gehört die Erde ihm – und sie ist schön.
Jean Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod / On Suicide: A Discourse on Voluntary Death