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Der Klinikbesuch

Der Klinikbesuch

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Unter dem Druck der Nervosität des heraufziehenden neuen Jahrtausends, das – wie Eingeweihte wissen – am 01.01.2001 beginnen sollte, platzte mir Mitte Dezember 2000 eine Ader im rechten Auge und tauchte die Hälfte meines Gesichtssinns in eine rötlich gefärbte Halbweltatmosphäre, wie man sie (wurde mir berichtet) sonst nur in den Bahnhofsvierteln größerer Städte finden kann.

 

Der von mir zu Rate gezogene Augenarzt wiegte bedenklich seinen Kopf und überwies mich kurzerhand an eine Augenklinik in einer nahegelegenen Stadt. Während ich am Arm meiner Frau, die fortwährend mein schweres Schicksal beklagte, das Treppenhaus des Gebäudes hinunterstieg, in welchem der Augenarzt seine Praxis untergebracht hatte, rief uns dessen Frau vom oberen Treppenabsatz nach: ‚Nehmen Sie etwas zu Essen mit, wenn sie nach H. fahren!’

 

Wie wertvoll dieser Hinweis war, sollte sich erst später herausstellen, wir hatten jedenfalls mehrfach Gelegenheit, Frau K., die in der Praxis ihres Mannes mitarbeitete, zu preisen und zu loben, als wir uns am nächsten Tag, es war der 12. Dezember 2000, um 4 Uhr morgens aufmachten, um zu der Augen-Fachklinik, die im übrigen keine Termine vergab, zu fahren.

 

Wir kamen am Bahnhof der Stadt um 5 Uhr morgens an und standen bald vor dem noch völlig dunklen Gebäude, das die Klinik beherbergte. Durch einen Seiteneingang gelangten wir in den Hof und mussten feststellen, dass andere, findigere Kranke und ihre Angehörigen bereits den in übrigen in fast völliger Dunkelheit liegenden Innenhof bevölkerten, jeweils paarweise, die Frauen ihre Männer untergehakt. Lediglich um eine trübe 20-Watt-Birne über dem noch verschlossenen Hintereingang des Haupttraktes funzelte sich vor sich hin, umschwärmt von Nachtfaltern, die paarweise die Lampe umschwirrten, die Frauen ihre Männer untergehakt.

 

Um 6 Uhr früh wurde die Hintertür geöffnet und ein sichtlich bereits jetzt überforderter oder übermüdeter Hausmeister ließ uns herein, wobei er mit einem massiver Buchenstock für Ordnung sorgte. An der Anmeldung mussten wir abgeben: a.) den Überweisungsschein, b.) die Krankenversicherungskarte und c.) unsere Brillen bzw. Kontaktlinsen.

 

Wir nahmen in der großzügig bemessenen Wartehalle Platz, einige begannen bereits unklugerweise die mitgebrachten Vorräte zu verzehren. Wir blieben standhaft und ich schlief nach kurzer Zeit ein. Plötzlich fühlte ich mich beobachtet, schreckte auf und sah den Schatten einer Figur vor mir, die sich, als sie sich langsam zu mir niederbeugte und in den Schärfebereich meiner kurzsichtiger Augen kam, als eine eher unscheinbare Frau mittleren Alters entpuppte, die eine Kittelschürze trug.

 

Instinktiv ergriff ich die eine Hand meiner Frau und drückte sie voll Angst, worauf diese ein schmerzvolles Stöhnen nur unzureichend unterdrücken konnte. Die fremde Frau sah mich einige Sekunden lang an, schüttelte besorgt den Kopf und spritzte mir gekonnt aus beträchtlicher Entfernung völlig unerwartet eine brennende Flüssigkeit in das erkrankte Auge. Ich war zu verängstigt, um laut aufzuschreien, und zitterte noch am ganzen Körper, als sich die von mir vorläufig als Putzfrau identifizierte Dame bereits dem nächst mir Sitzenden zugewandt hatte, um auch ihn zu versorgen.

 

Später, als die Frau, einem Satteliten gleich, etwa alle halbe Stunde wieder vorbeikam, um die schmerzhafte und verschreckende Prozedur des Kunstweitspritzens mit ätzenden Flüssigkeiten zu wiederholen, klärte sich die Situation wenigstens insoweit auf, als wir uns zurechtlegten, dass es sich bei der fraglichen Person (höchstwahrscheinlich) um eine Angestellte (?) des Etablissements handelte (?), die beauftragt war (?), den Patienten eine die Pupille erweiternde Medizin (???) zu verabreichen (?). Ihre Geschicklichkeit bei der Durchführung des Verfahrens und ihr untrügliches Erkennen sowohl des Patienten als auch dessen kranken Auges zeugt von einer gewissen Einarbeitung in die Materie und weiterentwickelter Fertigkeit.

 

Meine Frau teilte mir noch mit, sie führe einen Putzeimer mit sich, der halbvoll mit der Essenz gefüllt sei, die sie den Kranken mit bestechender Regelmäßigkeit mit Hilfe einer Pipette in die Augen spritze. Ich hatte allen Grund, die Besuche dieser Frau zu fürchten, bereits wenn 20 Minuten seit der letzten Wartehallenumlaufbahn vergangen waren beschleunigte sich mein Puls und meine Atmung ging stoßweise, bis sie nach weiteren 10 Minuten wieder aus dem sie umgebenden Nebel hervortrat und zuschlug. Ich muss darin erinnern, dass ich seit Stunden ohne Brille dasaß und die dramatischen Geschehnisse daher optisch nur sehr undeutlich mitbekam.

 

Nach dem 15. Durchlauf der Hexe verspürte ich eine deutliche Tendenz, mich den grundsätzlichen Fragen des Lebens zuzuwenden und bedachte (nun zum ersten Mal aus eigener Anschauung) die Endlichkeit irdischer Existenz. Während ich meiner Frau mein Testament diktierte, wurde ich nur 3 Mal von DER HEXE unterbrochen; ich nahm aus der Hand meiner Frau eine letzte Mahlzeit und trank zum ersten Mal an diesem Tag ein Schluck Wasser.

 

Während die Tageszeit vorrückte und die Minuten über die Klippe der Gegenwart unrettbar und endgültig in das Meer der Ewigkeit stürzten, während Visionen der Unterwelt drohend ihr Haupt erhoben und verzerrte Fratzen aus Breughelschen Bildern den aushaltenden Patienten quälten, geschah von fern ein RUF, der von den Fernersitzenden aufgenommen und wiederholt von Bank zu Bank sprang, während ein unirdisch gleißendes Licht durch das Oberlicht des Wartesaals brach.

 

DER RUF erinnerte von seiner Lautfolge her mich an längst vergessene und nun wieder auftauchende glückliche Stunden, etwa als ich als Kind in den Ferien den ganzen Vormittag im paradiesischen Sommergarten selbstvergessen mit Rinden, selbstgebauten Wasserädern und Segelbooten am Bach spielte, der in der Nähe unseres Hauses die Flur durchfloss und der Ruf meiner Mutter mich zum Mittagessen gerufen hatte. Meine Reflexionen durchbrach nun meine Frau mit einem herzhaften, aber im Grunde freundlich-aufmunternd gemeinten Rippenstoß, während sie sagte: Dein Name wurde aufgerufen, wir sollten gehen.

 

Wir ließen unser bisheriges Leben, das zunehmend aus Pipetten, Hexen, Säuren und letzten Fragen gekennzeichnet war, hinter uns und wandten uns der Tür zu, UNSERER TÜRE, die für uns geöffnet ward und die wir, meine Frau mich untergehakt, jetzt durchschritten.

 

Verglichen mit den Vorbereitungen dieses Besuchs, den stundenlangen Demütigungen, dem Hunger, der ätzenden Qual im Auge und der peinigenden Visionen, war die Untersuchung, die ja, wie mir jetzt einfiel, der Hauptgrund, ja das Ziel unserer irdischen Fahrt gewesen war, von vergleichsweiser Nüchternheit und Kälte.

 

Die Blutung in meinem Auge wurde von einem jungen, unscheinbaren Assistenzarzt in Minutenfrist für unbedeutend und ungefährlich bezeichnet. Er ließ uns aber wissen, dass dieses sein Urteil nur vorläufig sei, da DER OBERARZT, er verbeugte sich während dieser Worte tief, seine Diagnose noch abnehmen bzw. bestätigen müsse.

 

Er versank in tiefes Nachdenken, wahrscheinlich sein untergeordnetes Schicksal beklagend, was etwa eine Stunde in Anspruch nahm. Dann hellten sich seine Gesichtszüge auf und wir glaubten etwa zur selben Zeit einen feinen Schellenklang zu vernehmen, der sich unterbrochen von kurzen Ruhepausen fortsetzte und anschwoll. Wir brachten, fremde Besucher und Bittsteller, die wir in der uns fremden Stadt und in dem uns fremden Gebäude waren, den Schellen- und jetzt hinzutretenden Schalmeienklang in Zusammenhang mit der uns vertrauten und geliebten Adventszeit, in der wir uns ja unmittelbar befanden, mussten aber von solchen lose geknüpften Assoziationen Abstand nehmen, wenn wir die unterkühlte Atmosphäre der Anstalt in Rechnung brachten.

 

Zudem kam Bewegung in die Szenerie: Der Assistenzarzt richtete sich zu voller Höhe auf und stand schließlich auf und stellte sich kerzengerade mir einem exakten 90-Grad-Winkel seiner Fußspitzen an der Ostseite seines Schreibtischs auf. Er bedeutete uns mit einer energischen Handbewegung, aufzustehen und Haltung einzunehmen. Kaum hatten wir dieser Aufforderung entsprochen , sahen in seiner Blickrichtung ein bisher nicht beachteten Portal, das mit einem Samtvorhang drapiert und dessen Türknauf vergoldet war.

 

Das Tor öffnete sich und eine prächtig mit Samt und Trottelquasten verzierte Trage wurde herein gebracht, auf der ein thronähnlicher Sitz installiert war. Auf ihm saß eine imposante Figur, ein dicker Mann der die Insignien seiner Macht, farbenfroh gestaltete Epauletten an den Schultern trug und ein großes Buch im Schoß hielt. Der Assistenzarzt warf sich zu Boden und gab uns hierdurch den Blick auf die Gruppe frei, die den Mächtigen umgab: jungen Assistenzärztinnen, die in hohem Falsett Loblieder sangen, Zymbeln schüttelten und Tamburine schlugen.

 

Jetzt sahen wir auch, dass alle Arztzimmer untereinander mit jeweils einer eigenen Tür verbunden waren, die breit genug waren, um den Tross der Oberarztes passieren zu lassen. Dieser Oberarzt wurde nun den ganzen Tag ohne Unterbrechung durch diese Zimmerflucht getragen und bestätigte oder verwarf die vorläufigen Diagnosen seiner Knechte.

 

Stockend und mittränenerstickter Stimme trug unser Arzt seine Ergebnisse vor und zu seinem namenlosen Entzücken nickte der Oberarzt leicht und setzte einen knappen Vermerk in sein Buch, ohne mich auch nur flüchtig anzusehen. Die Prozession zog weiter, die der Einzugstür gegenüberliegende Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, Gesang und Klang wurden leiser und verebbten schließlich.

 

Der Assistenzarzt, überwältigt von den Ereignissen, versank nochmals in kurzes Nachdenken und scheuche uns schließlich mit einem barschen Wort aus dem Raum. Wir setzten uns noch einmal in den Wartesaal, wo wir die kläglichen Reste unseres Proviants verzehrten, wurden aber von der Hexe jetzt ignoriert, war uns fast schmerzhafter berührte als die zuvor gekosteten Qualen.

 

Schließlich, es war inzwischen tiefe Nacht, erschien der Hausmeister und jagte uns aus dem Haus, wobei es mir gelang, wenigstens meine Brille noch vom Tresen zu schnappen, bevor sein Stock mich treffen konnte.

 

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Uploaded on August 1, 2012
Taken on September 30, 2011