Weitblick
WiLLi ist nur bedingt ein Mann mit Weitblick. Das ist schon etwas länger mein Text zu diesem Foto von 1958, das in Bad Zwischenahn entsteht. WiLLi ist mein Vater, auch dein Erzeuger genannt. Dieses Synonym sagt an sich schon einiges aus. WiLLi entpuppt sich als das krasse Gegenteil eines Familienmenschen. Aus seiner eigenen Familie lerne ich niemand persönlich kennen, bis zu seinem Tod 1965. Da treffe ich meinen Halbbruder und dessen Ehefrau, die in Westfalen leben, anlässlich der Beerdigung.
In meinen ersten zehn Lebensjahren ist WiLLi für mich präsent, zeitweise. Er lebt ein anderes Leben, irgendwo, außerhalb der Familie. Wobei es keine Hinweise gibt, dass dies mit einem anderen Verhältnis zu tun hat.
WiLLi stammt bekanntlich aus Marburg-Weidenhausen. Er wird aber bereits in Kassel die Schulen besuchen. Mehrere Urkunden zeigen, dass sein älterer Bruder Karl und WiLLi eine Ausbildung zum Kaufmann absolvieren. Es gibt in der Familie noch eine jüngere Schwester, die mir später als Tante Tilde in Kassel geläufig wird. WiLLi gründet 1925, vier Jahre nach Karl, eine eigene Familie. Wo Karl, Willi und Tilde bis dahin leben, ist eine meiner offenen Fragen.
Ich kenne mehrere Adressen ihres Vaters Friedrich Jakob in Kassel – über die alten Adressbücher. Im August 1919 folgt die Scheidung der Eltern. Friedrich Jakob hat den 1. Weltkrieg überlebt. Man hat ihm als Vizefeldwebel 1915 das Eiserne Kreuz 2. Klasse an die Jacke geheftet. Woraus ich schließe, dass er an der Front oder frontnah im Einsatz ist. Möglich, dass er am Ende des Krieges einen höheren Dienstgrad hat. Zwei Millionen deutsche Soldaten überleben den Krieg nicht. Friedrich Jakob darf also von Glück sprechen. Der Krieg hat die Eheleute vielleicht entfremdet oder vorhandene Probleme verstärkt. Das Kaiserreich ist in der Revolution vom November 1918 untergegangen und damit auch manch alter Zopf, auch Familie, Ehe und Moral betreffend. Das könnte die Trennung zusätzlich befördert haben.
Den Vater Friedrich Jakob habe ich weiter im Fokus, die Mutter Katharina nicht. Ihre letzten für mich im Moment sichtbaren Spuren verlieren sich nach den Marburger Geburtsurkunden ihrer Kinder, bis sie 1919 noch einmal mit dem Scheidungsvermerk auffindbar ist. Dieser gibt aber keinen Hinweis auf ihren Aufenthalt. Bekanntlich ist meine umfangreiche Suche nach Katharina in den Urkunden in Marburg und in Kassel erfolglos.
Im März 1921 heiratet Friedrich Jakob die zwölf Jahre jüngere Erna Ida Anna. Friedrich ist 41. Ob beide noch gemeinsame Kinder haben, kann ich über das Internet nicht herausfinden. Für Geburtsurkunden gilt eine Schutzfrist von 110 Jahren.
Als ich mit der Ahnenforschung beginne [schon mehr als zehn Jahre her], rücken Fragen in den Mittelpunkt, die mich bis dahin nur am Rande bewegen. Mir wird zunehmend deutlich, dass die Biografien meiner Eltern entscheidend auch etwas mit mir und meiner eigenen Prägung zu tun haben. Jehr mehr ich aus diesen Lebenswegen herausarbeite und erkenne, desto deutlicher wird dies. Meine Mutter, aus dem nordwestdeutschen Flachland stammend, hat eine sehr extreme Biografie, die vom großbürgerlichen Wohlstand bis in die existenzbedrohende Armut führt, letzteres hat vor allem mit WiLLI zu tun. Die von ihr initiierte Scheidung 1959 wird für meine Mutter damit zugleich zur biografischen Kehrtwende in eine bessere Zukunft. Immerhin bleiben ihr dann noch fast 50 Jahre, ehe sie zehn Tage vor ihrem 90. Geburtstag stirbt.
WiLLi bleibt mir bis heute in Vielem ein Rätsel. In der Familie meiner Mutter kommt er nie an, obwohl dort die Bande sehr eng sind. WiLLi ist Außenseiter, wird so gesehen und auch so behandelt. Als Kind muss ich in meinem gesamten Umfeld erleben, dass WiLLi ein Fremdkörper ist. Mein Vaterbild entwickelt sich zunehmend negativ.
WiLLi wird als hochintelligent definiert. Er ist mathematisch überdurchschnittlich und ein Fuchs in verwaltungsrechtlichen und juristischen Fragen. Was ihm dabei helfen mag, in den schwierigen Nachkriegsjahren manche Nuss zu seinen Gunsten zu knacken. WiLLi ist in unserem damals noch überschaubaren Wohnort schon bald in ein perfektes Netzwerk integriert. Er kann blenden, wenn es sein soll, und so sind seine Duzfreunde in der für ihn relativ neuen Umgebung vor allem Männer mit Ämtern, Funktionen und Beziehungen. Auf diese Weise gelingt es WiLLi, zehn Jahre lang jeglicher Arbeitsaufnahme zu entsagen und stattdessen das zu beanspruchen, was man heute staatliche Stütze nennt. In der Folge der wirtschaftlichen Not ist meine Mutter ab 1956 gezwungen, als Fabrikarbeiterin in Sechstagewochen zu schuften. Für 88 Pfennig brutto, die Stunde. Ich erlebe meine Mutter zunehmend als seelische und körperliche Ruine. Als 15-Jährige hat sie eine schwere Mittelohrentzündung. Nach einer Operation bleibt sie für den Rest ihres Lebens schwerhörig. Ein schlimmes Handicap, später vor allem auch im Hinblick auf ihre problematische Ehe.
Als ich bereits zur Grundschule gehe, sehe ich WiLLi fast nur noch als Gasthausbewohner. Sein eigentliches Zuhause ist eine zentral liegende Gastwirtschaft. Ich sehe ihn immer wieder mit seinen Netzwerkern, darunter Leute, die neben bekannten Spitzenpolitikern auf Bundesebene in bedeutenden Gremien sitzen. Es gelingt WiLLi irgendwie, seinen Status in diesem Kreis zu etablieren, in dem auch örtliche Fabrikdirektoren und andere Größen sitzen. Erstaunlich! Denn die Frage ist für mich auch heute: Was ist WiLLi überhaupt? Was macht ihn für andere interessant? WiLLi weiß, was er seinem öffentlichen Image schuldet. Auch am Kneipentresen sieht man ihn nur im perfekten Outfit, dunkler Anzug und passende Krawatte.
Dass ich bereits vor dem Schulalter Adenauer und Ollenhauer parteipolitisch definieren kann, ist WiLLis Werk. Er macht mich so früh für Politisches warm, dass ich, nach einsamem Beschluss, bereits als Zwölfjähriger in kurzen Hosen bei einer abendlichen Wahlkampfveranstaltung des damaligen FDP-Bundesvorsitzenden Erich Mende aufkreuze, während man zu Hause keine Ahnung hat, wo der Junge schon wieder steckt.
WiLLi sorgt auch für meine Vorliebe für Radio, Bahnhof und Eisenbahnzug. WiLLi ist immer begeistert, wenn er mal wieder einen fahren lassen kann – das passiert ja noch sehr spektakulär mit viel Dampf und markigen Geräuschen. In meiner Erinnerung gibt es im Übrigen nicht eine einzige Szene, in der eine gemeinsame Unternehmung mit Vater und Mutter existiert. Da gibt es nichts. Gemeinsame Fotos daher auch nicht.
[Um Flickr den Textkollaps zu ersparen, geht der Text in den beiden folgenden Kommentarfeldern weiter.]
Weitblick
WiLLi ist nur bedingt ein Mann mit Weitblick. Das ist schon etwas länger mein Text zu diesem Foto von 1958, das in Bad Zwischenahn entsteht. WiLLi ist mein Vater, auch dein Erzeuger genannt. Dieses Synonym sagt an sich schon einiges aus. WiLLi entpuppt sich als das krasse Gegenteil eines Familienmenschen. Aus seiner eigenen Familie lerne ich niemand persönlich kennen, bis zu seinem Tod 1965. Da treffe ich meinen Halbbruder und dessen Ehefrau, die in Westfalen leben, anlässlich der Beerdigung.
In meinen ersten zehn Lebensjahren ist WiLLi für mich präsent, zeitweise. Er lebt ein anderes Leben, irgendwo, außerhalb der Familie. Wobei es keine Hinweise gibt, dass dies mit einem anderen Verhältnis zu tun hat.
WiLLi stammt bekanntlich aus Marburg-Weidenhausen. Er wird aber bereits in Kassel die Schulen besuchen. Mehrere Urkunden zeigen, dass sein älterer Bruder Karl und WiLLi eine Ausbildung zum Kaufmann absolvieren. Es gibt in der Familie noch eine jüngere Schwester, die mir später als Tante Tilde in Kassel geläufig wird. WiLLi gründet 1925, vier Jahre nach Karl, eine eigene Familie. Wo Karl, Willi und Tilde bis dahin leben, ist eine meiner offenen Fragen.
Ich kenne mehrere Adressen ihres Vaters Friedrich Jakob in Kassel – über die alten Adressbücher. Im August 1919 folgt die Scheidung der Eltern. Friedrich Jakob hat den 1. Weltkrieg überlebt. Man hat ihm als Vizefeldwebel 1915 das Eiserne Kreuz 2. Klasse an die Jacke geheftet. Woraus ich schließe, dass er an der Front oder frontnah im Einsatz ist. Möglich, dass er am Ende des Krieges einen höheren Dienstgrad hat. Zwei Millionen deutsche Soldaten überleben den Krieg nicht. Friedrich Jakob darf also von Glück sprechen. Der Krieg hat die Eheleute vielleicht entfremdet oder vorhandene Probleme verstärkt. Das Kaiserreich ist in der Revolution vom November 1918 untergegangen und damit auch manch alter Zopf, auch Familie, Ehe und Moral betreffend. Das könnte die Trennung zusätzlich befördert haben.
Den Vater Friedrich Jakob habe ich weiter im Fokus, die Mutter Katharina nicht. Ihre letzten für mich im Moment sichtbaren Spuren verlieren sich nach den Marburger Geburtsurkunden ihrer Kinder, bis sie 1919 noch einmal mit dem Scheidungsvermerk auffindbar ist. Dieser gibt aber keinen Hinweis auf ihren Aufenthalt. Bekanntlich ist meine umfangreiche Suche nach Katharina in den Urkunden in Marburg und in Kassel erfolglos.
Im März 1921 heiratet Friedrich Jakob die zwölf Jahre jüngere Erna Ida Anna. Friedrich ist 41. Ob beide noch gemeinsame Kinder haben, kann ich über das Internet nicht herausfinden. Für Geburtsurkunden gilt eine Schutzfrist von 110 Jahren.
Als ich mit der Ahnenforschung beginne [schon mehr als zehn Jahre her], rücken Fragen in den Mittelpunkt, die mich bis dahin nur am Rande bewegen. Mir wird zunehmend deutlich, dass die Biografien meiner Eltern entscheidend auch etwas mit mir und meiner eigenen Prägung zu tun haben. Jehr mehr ich aus diesen Lebenswegen herausarbeite und erkenne, desto deutlicher wird dies. Meine Mutter, aus dem nordwestdeutschen Flachland stammend, hat eine sehr extreme Biografie, die vom großbürgerlichen Wohlstand bis in die existenzbedrohende Armut führt, letzteres hat vor allem mit WiLLI zu tun. Die von ihr initiierte Scheidung 1959 wird für meine Mutter damit zugleich zur biografischen Kehrtwende in eine bessere Zukunft. Immerhin bleiben ihr dann noch fast 50 Jahre, ehe sie zehn Tage vor ihrem 90. Geburtstag stirbt.
WiLLi bleibt mir bis heute in Vielem ein Rätsel. In der Familie meiner Mutter kommt er nie an, obwohl dort die Bande sehr eng sind. WiLLi ist Außenseiter, wird so gesehen und auch so behandelt. Als Kind muss ich in meinem gesamten Umfeld erleben, dass WiLLi ein Fremdkörper ist. Mein Vaterbild entwickelt sich zunehmend negativ.
WiLLi wird als hochintelligent definiert. Er ist mathematisch überdurchschnittlich und ein Fuchs in verwaltungsrechtlichen und juristischen Fragen. Was ihm dabei helfen mag, in den schwierigen Nachkriegsjahren manche Nuss zu seinen Gunsten zu knacken. WiLLi ist in unserem damals noch überschaubaren Wohnort schon bald in ein perfektes Netzwerk integriert. Er kann blenden, wenn es sein soll, und so sind seine Duzfreunde in der für ihn relativ neuen Umgebung vor allem Männer mit Ämtern, Funktionen und Beziehungen. Auf diese Weise gelingt es WiLLi, zehn Jahre lang jeglicher Arbeitsaufnahme zu entsagen und stattdessen das zu beanspruchen, was man heute staatliche Stütze nennt. In der Folge der wirtschaftlichen Not ist meine Mutter ab 1956 gezwungen, als Fabrikarbeiterin in Sechstagewochen zu schuften. Für 88 Pfennig brutto, die Stunde. Ich erlebe meine Mutter zunehmend als seelische und körperliche Ruine. Als 15-Jährige hat sie eine schwere Mittelohrentzündung. Nach einer Operation bleibt sie für den Rest ihres Lebens schwerhörig. Ein schlimmes Handicap, später vor allem auch im Hinblick auf ihre problematische Ehe.
Als ich bereits zur Grundschule gehe, sehe ich WiLLi fast nur noch als Gasthausbewohner. Sein eigentliches Zuhause ist eine zentral liegende Gastwirtschaft. Ich sehe ihn immer wieder mit seinen Netzwerkern, darunter Leute, die neben bekannten Spitzenpolitikern auf Bundesebene in bedeutenden Gremien sitzen. Es gelingt WiLLi irgendwie, seinen Status in diesem Kreis zu etablieren, in dem auch örtliche Fabrikdirektoren und andere Größen sitzen. Erstaunlich! Denn die Frage ist für mich auch heute: Was ist WiLLi überhaupt? Was macht ihn für andere interessant? WiLLi weiß, was er seinem öffentlichen Image schuldet. Auch am Kneipentresen sieht man ihn nur im perfekten Outfit, dunkler Anzug und passende Krawatte.
Dass ich bereits vor dem Schulalter Adenauer und Ollenhauer parteipolitisch definieren kann, ist WiLLis Werk. Er macht mich so früh für Politisches warm, dass ich, nach einsamem Beschluss, bereits als Zwölfjähriger in kurzen Hosen bei einer abendlichen Wahlkampfveranstaltung des damaligen FDP-Bundesvorsitzenden Erich Mende aufkreuze, während man zu Hause keine Ahnung hat, wo der Junge schon wieder steckt.
WiLLi sorgt auch für meine Vorliebe für Radio, Bahnhof und Eisenbahnzug. WiLLi ist immer begeistert, wenn er mal wieder einen fahren lassen kann – das passiert ja noch sehr spektakulär mit viel Dampf und markigen Geräuschen. In meiner Erinnerung gibt es im Übrigen nicht eine einzige Szene, in der eine gemeinsame Unternehmung mit Vater und Mutter existiert. Da gibt es nichts. Gemeinsame Fotos daher auch nicht.
[Um Flickr den Textkollaps zu ersparen, geht der Text in den beiden folgenden Kommentarfeldern weiter.]