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Die Geschichte des Bruders --- Brother’s story

(Bemerkung: Die meisten der kleinen Geschichten des Sekretärs sind in sich abgeschlossen. Diese ist eine Ausnahme und bezieht sich auf flic.kr/p/2qM2fY6.)

 

Zum Schluss hat es also auch noch mein Haus erwischt – wenigstens ein bisschen. Mein schönes Haus, in dem ich so gerne alt geworden wäre. Wer immer in sogenannten bürgerlichen Verhältnissen gelebt hat, kann gar nicht ermessen, was es für mich bedeutete. Eigentlich kann es mir nun ja völlig schnuppe sein, aber schade ist es doch irgendwie. Immerhin: Der Geldschrank, mein mit Abstand wichtigstes Möbelstück, hat überlebt und altert ungestört vor sich hin.

 

Wie die Muschel eine wertvolle Perle umschloss er einst meinen wertvollsten Besitz, die Grundlage meines Erfolgs. Wissen, festgehalten in einer über die Zeit stetig gewachsenen Sammlung von Kladden, in meiner krakeligen und orthographisch durchaus mängelbehafteten Handschrift. Wissen darum, wer wen kennt, wer bei wem noch einen Gefallen gut und wer mit wem noch eine Rechnung offen hat – sei es im wörtlichen oder übertragenen Sinne. Das Wissen um ein paar kleine schmutzige Geheimnisse natürlich auch; für den Fall, dass es einmal nicht anders ginge – doch es ging immer anders und letztlich zum Vorteil aller. Schliesslich – gewissermassen als Allerheiligstes – das Wissen darum, wer was braucht oder liefern kann und zu welchen Bedingungen, was gerade händeringend gesucht oder angeboten wird und von wem – sei es ein edler Cognac oder Geschmeide, um die Lieblingsgespielin bei Laune zu halten; Zertifikate und Urkunden, an deren unbedingter Echtheit keine Amtsperson auch nur zu zweifeln wagen würde; ein dringend benötigtes Spezialmessgerät; Medikamente; industrielle Rohstoffe der raren Art: Ich trieb es auf und lieferte – gegen eine angemessene Aufwandsentschädigung, versteht sich. Für jemanden, der als kleiner Schieber in dunklen Hinterhöfen am alleruntersten Ende der Hackordnung begonnen hatte, eigentlich keine schlechte Karriere.

 

Als mein Bruder gänzlich ungeplant mein Leben und damit auch mein Haus übernehmen musste, war es der Inhalt des Geldschrankes gewesen, der es ihm nach kurzem, aber intensivem Studium ermöglicht hatte, meine Geschäfte praktisch nahtlos weiterzuführen. Mein eineiiger Zwillingsbruder, mit dem ich als einzigem Menschen der Welt jemals das Wissen um den Geldschrank und den Zugang zu seinem Inhalt geteilt habe.

 

Gar nicht so viel später hatte er dann das objektiv wohl Unvermeidliche getan: Den Geldschrank leeren und mit seinem Inhalt eine spontane Reise Richtung Westen antreten. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Haus einer Einheit der Roten Armee im Wege gestanden und zumindest teilweise in eine Ruine verwandelt worden war. Danach diente es und dient bis heute nur verschiedenstem Getier als Behausung – und gelegentlich für einige Nächte einem Menschen, der keine andere hat. Die Tür zu meinem Arbeitszimmer im Obergeschoss wurde von meinem etwas pedantischen Bruder bei seiner Abreise abgeschlossen und erstaunlicherweise seitdem von keinem Menschen mehr geöffnet. Und so steht auch der Geldschrank unbehelligt an seinem Platz auf den Dielen und fest verankert an der Wand mit der vor sich hin gilbenden Tapete. Eigentlich in ganz gutem Zustand, auch wenn wegen eines eingeschlagenen Fensters Wind und Wetter ihre Spuren hinterlassen.

 

Spätestens beim Ausräumen wird mein Bruder neben den Kladden und einem doch recht ansehnlichen Bestand an Bargeld, Schmuck und goldenen Uhren auch auf das Bild gestossen sein, von dem ich ihm erzählt, aber das ihm zu zeigen ich keine Gelegenheit mehr gehabt hatte. Die Photographie, die mir unerwartet in die Hände gefallen war, als ich – einzig bekannter Anverwandter – nach ihrem Tod die wenigen Habseligkeiten meiner Mutter zusammenzuräumen hatte. Die Photographie einer recht hübschen jungen Frau, in der ich unzweifelhaft meine Mutter erkannte hatte. Mit zwei Säuglingen links und rechts im Arm hatte sie mich erschöpft, aber glücklich angelächelt. Auf der Rückseite mit Bleistift notiert ein Datum wenige Tage nach meinem Geburtstag. Kurz darauf war mein Vater, ein strebsamer und fleissige Maschinenschlosser, bei einem Arbeitsunfall zum Invaliden geworden und sich daraufhin in bemerkenswert kurzer Zeit zu Tode gesoffen.

 

Meine letzte Nacht auf Erden habe in im Hotel recht schlecht geschlafen. Ich war aufgestanden und angezogen, lange bevor ich mich wie verabredet zum morgendlichen Spaziergang durch das verschlafene Städtchen aufgemacht hätte. Das letzte, wovon ich weiss, ist der charakteristische Klang schwerer Motoren in der Luft, wahrlich kein seltener Klang in dieser Zeit. Dann das Krachen, die Flammen der Explosion und die Druckwelle der detonierenden Fliegerbombe. Und dann war alles dunkel geworden.

 

(Teil der Serie: "Ein Bild und eine Geschite". Copyright Der Sekretär. Alle Rechte vorbehalten.)

 

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(Note: Most of Secretary‘s little stories are self-contained. This one, however, is an exception and refers to flic.kr/p/2qM2fY6.)

 

So in the end, my house got hit too – at least a little. My beautiful house, which I would have loved to grow old in. Anyone who has always lived in so-called privileged circumstances can't imagine what it meant to me. I couldn't really care less now, but somehow it's a shame nevertheless. At least the money cabinet, by far my most important piece of furniture, has survived and continues to age in peace.

 

Like a sea shell does with precious pearl, it once encased my most valuable possession, the foundation of my success. Knowledge, written in an ever-growing collection of notebooks in my scribbly and orthographically flawed handwriting. Knowledge of who knows whom, who is still good for a favor and who still has a score to settle with whom – be it literally or figuratively. The knowledge about a few dirty, little secrets too, of course, just in case there was no other way, but it always worked out differently and ultimately to everyone's advantage. Finally – as the inner sanctum, so to speak – the knowledge of who needs or can supply what and on what terms, what is being desperately sought after or offered and by whom – be it a fine cognac or jewelry to keep a favorite playmate happy; certificates and documents the absolute authenticity of which no official would even dare to doubt; an urgently needed special measuring device; medicines; industrial raw materials of the rarest kind: I tracked it down and delivered – for a reasonable recompence, of course. Not a bad career for someone who had started out as a small-time pusher in dark back alleys at the very bottom of the pecking order.

 

When my brother had to take over my life and my house entirely unplanned, it had been the contents of the money cabinet that had made it possible for him to virtually seamlessly continue my business after a brief but intensive study. My identical twin brother, wo was the only person in the world with whom I have ever shared the knowledge of the safe and access to its content.

 

Not much later, he had done the objectively unavoidable: emptied the money cabinet and embarked with its contents on a spontaneous westwards journey. Just in time before the house stood in the way of a Red Army unit and was at least partially turned into a ruin. After that, it served and still serves as a dwelling for various animals – and every now and then houses for a few nights a person who has no other place to stay. The door to my study on the upper floor was locked by my somewhat pedantic brother when he left and, surprisingly, no one has opened it since. And so the money cabinet stands undisturbed in its place on the floorboards, firmly anchored to the wall with the yellowing wallpaper. It is actually in a quite good condition, even if wind and weather have left their mark due to a smashed window.

 

During the clear-out at the latest, in addition to the notebooks and a considerable amount of cash, jewelry and gold watches, my brother will have come across the picture that I had told him about, but which I hadn't had the chance to show him. The photograph that had unexpectedly fallen into my hands when I – the only known relative – had to gather up my mother's few belongings after her death. The photograph of a quite pretty young woman in whom I undoubtedly recognized my mother. With two babies on her left and right, she had smiled at me, exhausted but happy. On the back, written in pencil, was a date a few days after my birthday. A little later, my father, a hard-working and diligent machinist, had become an invalid due to an accident at work and had drunk himself to death in a remarkably short time.

 

In my last night on earth, I slept quite badly at the hotel. I was up and dressed long before I would have set off for my pre-arranged morning stroll through the sleepy little town. The last thing I remember is the characteristic sound of heavy engines in the air, not an uncommon sound at these times. Then the crash, the flames of the explosion and the pressure wave of the detonating aerial bomb. And then everything had gone dark.

 

(Part of the series: "A picture and a Story". Copyright by Secretary. All rights reserved).

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Uploaded on June 19, 2025