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Der Wechsel --- The change

Wahrscheinlich hatte es beim Anlaufen am Morgen etwas gestockt und gerattert, ein paar seltsame Geräusche. Dann hatten die Räder der komplexen Anlage stillgestanden. Es hatte einen Knall und eine Stichflamme gegeben. Innerhalb von Minuten hatte rund ein Drittel der Produktionsstätte aufgehört zu existieren. Mit dem Rest war auch nicht mehr wirklich viel anzufangen gewesen. Genauso wie geplant.

 

Er war sich gar nicht ganz sicher gewesen, ob er die Stelle wirklich wiederfinden würde. Als er nun aber auf das rostige und moosbewachsene Zahnrad blickte, das da aus dem Gras ragte, wusste er, dass er am Ziel war. Nach so vielen Jahren hatte er sich entscheiden, noch einmal herzukommen, um endgültig abschliessen zu können. Abschliessen mit einem Projekt, dem er über einige Jahre mit Eifer gedient hatte. Abschliessen mit einem Projekt und einem Leben.

 

Irgendwann waren die Zweifel gekommen, die nicht wieder verstummen mochten. Sie waren im Gegenteil immer lauter und bohrender geworden, hatten sich schliesslich zu einer einsamen Gewissheit verdichtet: Dieser Krieg, zu dessen Fortgang er beitrug, musste zu Ende gehen. Und zwar durch eine Niederlage.

 

Nachdem das einmal feststand, war alles Weitere eigentlich nicht schwer gewesen, lediglich eine Frage der detaillierten und sorgfältigen Planung. Er wusste, wie man in der Anlage mit wenig Aufwand eine geradezu verheerende Wirkungskette in Gang setzen konnte, und er hatte die Gelegenheit. Das Zahnrad, auf das er nun wieder blickte, hatte dabei neben einigen anderen Teilen eine gewisse Rolle gespielt.

 

Die Gelegenheit hatte sich im Zuge einer der vielen Reisen ergeben, die er zur Vorbereitung der bevorstehenden Verlegung in ein unterirdisches Stollensystem mehrere hundert Kilometer entfernt unternahm. Ein Wagen der Organisation Todt hatte ihn wie üblich am Abend abgeholt und mitten in der Nacht bei einem nur noch von Offizieren und zivilen Experten wie ihm besuchten Hotel abgeliefert. So weit, so unspektakulär.

 

Nur war eben nicht er gefahren, sondern sein Bruder: Sein eineiiger Zwillingsbruder, von dem er nach einer Geburt in den prekären Verhältnissen einer verfallenden Mietskaserne getrennt worden war und der bei der Mutter unter einem anderen Familiennamen als er selbst und in einem anderen Winkel des Reiches aufgewachsen war. Abgesehen davon, dass sie sich glichen wie das sprichwörtliche Ei dem anderen, gab es keine offensichtliche Verbindung, schon gar keine amtliche. Dafür hatten die Menschen, die er bis zu ihrem tragischen Autounfall als seine Eltern gekannt hatte, schon gesorgt. Sie hatten ihm auch eine behütete Kindheit und Jugend geschenkt und ihm ermöglicht, noch rechtzeitig vor dem Krieg zum Maschinenbauingenieur mit Prädikatsexamen zu werden.

 

Von der Existenz eines Bruders hatte er erst vor einigen Jahren dank dessen unermüdlichen Nachforschens erfahren. Der hatte irgendwann erst vermutet und war sich schliesslich sicher gewesen, dass er nicht alleine geboren worden war. Zunächst war es eigentlich nur Spass gewesen, dass sie sich immer ganz verschwiegen und in den verschiedensten Städten getroffen hatten. Später hatte es sich als durchaus nützlich erwiesen. Vom ersten Treffen an hatten sie sich ohne viele Worte verstanden. Beide waren ledig und ungebunden, der Bruder reiste quer durch das sich zunächst aufblähende und dann wieder schrumpfende Reich und besorgte auf nur ihm bekannten Wegen, was eigentlich absolut nicht zu bekommen war. Solche Menschen waren unverzichtbar und genossen bemerkenswerte Narrenfreiheit. Es war auch sehr schnell klar geworden, dass ihre Einstellung zu bestimmten Fragen nicht weit auseinander lag.

 

An jenem Abend war der Bruder also unter falscher Identität aufgebrochen. Er selbst hatte sich - zu dieser Zeit ganz allein in jenem Teil des Werks - an die Arbeit gemacht und alles für das grosse Feuerwerk beim nächsten Anfahren vorbereitet. Das mochte vielleicht eine gute Stunde gedauert haben. Als Dritter im Bunde hatte ihn ein anderer Fahrer, ein sehr verschwiegener und guter Freund seit Kindertagen, eingesammelt und sich mit ihm auf einer anderen Route auf den Weg gemacht. Bei einem morgendlichen Spaziergang durch das verschlafene Städtchen hätten sie, so der Plan, wieder die Rollen getauscht und er hätte sich zum Stollen fahren lassen.

 

Was dazwischengekommen war, war eine verirrte Bombe eines Angriffs auf eine nahegelegene Fabrik. Diese hatte das Hotel samt Bruder ausgelöscht, als er selbst gerade die Stadtgrenze erreicht hatte. Das für einige Stunden gedachte Verwirrspiel war damit dauerhaft. Er war nun sein Bruder.

 

Es hatte beim Anlaufen etwas gestockt und gerattert, ein paar seltsame Geräusche. Dann hatten die Räder in der Maschine seines neuen Lebens geschmeidig ineinandergegriffen und hatten sich bewegt, als wäre es nie anders gewesen.

 

(Teil der Serie: Ein Bild und eine Geschichte. Copyright der Sekretär, 2025. Alle Rechte vorbehalten.)

 

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There had probably been some stuttering and rattling during start-up in the morning, a few strange noises. Then the wheels of the complex machinery had come to a standstill. There had been a bang and a flash fire. Within minutes, around a third of the production facility had ceased to exist. There hadn't really been much use for the rest either. Just as planned.

 

He hadn't been too sure whether he would really find the spot again. But when he looked at the rusty, moss-covered cogwheel sticking out of the grass, he knew he had reached his destination. After so many years, he had decided to come back here one last time so that he could finally come to an end. Come to an end with a project that he had served with zeal for several years. Come to an end with a project and a life.

 

At some point, the doubts had come, and they would not go away. On the contrary, they had become louder and louder and had finally condensed into a lonely certainty: This war, to whose progress he was contributing, had to come to an end. And it had to end in defeat.

Once that had been fixed, everything else had not really been difficult, just a question of detailed and careful planning. He knew how to set off a devastating chain of effects in the plant with little effort, and he had the opportunity. The cogwheel he was now looking at again had played a certain role in this, along with a couple of other parts.

 

The opportunity had arisen in the course of one of the many trips he made to prepare for the upcoming transfer to an underground tunnel system several hundred kilometers away. As usual, a car from the Todt organization had picked him up in the evening and dropped him off in the middle of the night at a hotel frequented only by officers and civilian experts like himself. So far, so unspectacular.

 

However, it wasn't him who had gone, but his brother: his monozygotic twin brother, from whom he had been separated after being born in the precarious conditions of a run-down tenement and who had grown up with his mother under a different surname to his own and in a different corner of the empire. Apart from the fact that they were like two peas in a pod, there was no obvious connection, let alone an official one. The people he had known as his parents until their tragic car accident had already seen to that. They had also given him a sheltered childhood and youth and enabled him to become a mechanical engineer with honors before the war.

 

He had only found out about the existence of a brother a few years ago thanks to the latter's tireless research. He had first suspected at some point and had finally been certain that he had not been born alone. At first, it had actually just been fun that they had always met in secret and in different cities. Later, it had proved to be quite useful. From their first meeting, they had understood each other without many words. Both were single and unattached, the brother traveled all over the first expanding and later shrinking empire and procured what was actually absolutely unobtainable through channels known only to him. Such people were indispensable and enjoyed remarkable liberties. It also became clear very quickly that their attitudes to certain issues were not far apart.

 

That evening, the brother had departed under a false identity. He had set to work himself - all alone in that part of the factory at the time - and prepared everything for the big fireworks the next time they started up. That might have taken a good hour. Another driver, a very discreet and good friend since childhood, had picked him up and set off with him on a different route. The plan was that during a morning stroll through the sleepy little town, they would have swapped roles again and he would have let himself be driven to the tunnel.

 

What had interfered was a stray bomb from an attack on a nearby factory. It had wiped out the hotel and his brother just as he himself had reached the city boundaries. The game of confusion that had been planned for a few hours was now permanent. He was now his brother.

 

There had been some stuttering and rattling, a few strange noises. Then the wheels in the machine of his new life had meshed smoothly and moved as if it had never been any different.

 

(Part of the series: A picture and a story. Copyright by Secretary, 2025, all rights reserved.)

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Uploaded on February 16, 2025