Aus dem Leben einer Kamera --- From a camera's life
Als Leica IIIb bin ich ein Kriegskind – oder zumindest fast. Die Seriennummern von mir und meinem Objektiv deuten darauf hin, dass wir im Jahr 1939 erbaut wurden, ich vielleicht auch 1940 – also zu jener Zeit, als das ruhmgekrönte Morden wieder einmal von der Welt Besitz ergriff.
An meine Anfangszeit erinnere ich mich nur in Form unscharfer Schemen; ganz so, wie es bei Aufnahmen mit einem falsch fokussierten Objektiv der Fall ist. Und vielleicht ist das auch besser so, wer weiss.
Den Krieg habe ich durchaus mitbekommen, aber etwas indirekt. Denn ich wurde in die schöne und neutrale Schweizerische Eidgenossenschaft exportiert; also in ein Land, das nicht direkt verwickelt, aber doch stark betroffen war. Mir scheint plausibel, dass ich zunächst von einer Zeitungsredaktion erworben wurde. Dort half ich, die Idee der Geistigen Landesverteidigung zu verbreiten und auch zu dokumentieren, wie man sich keineswegs nur geistig auf die Abwehr eines Angriffs aus dem Land meiner Herkunft vorbereitete. Ich bin wohl gelegentlich auf Reisen gewesen, auch im Ausland.
Eigentlich sollte ich «wir» sagen, denn das Objektiv ist ja im Grunde eine eigene und selbstständig Persönlichkeit. Aber wir haben über so viele Jahre alle Erlebnisse geteilt, dass ich schon für uns beide sprechen darf. Überhaupt ist mein angesetztes Summarit 5cm f/2 im Gegensatz zu mir selbst sehr schweigsam; es beobachtet die Welt aber unermüdlich und präzise.
Irgendwann wurde ich als wohl nicht mehr genügend modern und zeitgemäss empfunden und ausgemustert. Von da an war ich für viele Jahre zu einem trostlosen und todlangweiligen Leben in dunklen Schränken und Schubladen verdammt.
Doch vor einiger Zeit wurde ich tatsächlich gründlich gereinigt und gewartet – und kam jetzt zu einem Menschen, der versprochen hat, mit mir durch Strassen und Gassen zu schlendern, und dass ich tatsächlich wieder photographieren – oder sagt man heute «fotografieren?» – darf. Und dies mit einem geradezu phantastischen Film und begleitet von einem meiner Präzision ebenbürtigen Belichtungsmesser. Ich freue mich riesig – wir freuen uns riesig!
(Teil der Serie: Ein Bild und eine Geschichte. Copyright Der Sekretär, 2024. Alle Rechte vorbehalten.)
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As a Leica IIIb, I am a child of war, or almost. The serial numbers on me and my lens indicate that we were built in 1939, perhaps I was built in 1940 – the time when glorious murder was once again sweeping the world.
I only remember my early days as blurry silhouettes, just like when you take a picture with an out-of-focus lens. And maybe it's better that way, who knows.
I experienced the war, but somewhat indirectly. I was exported to the beautiful and neutral Swiss Confederation, a country that was not directly involved, but was nonetheless severely affected. It seems plausible to me that I was first acquired by a newspaper editorial office. There I helped to spread the idea of spiritual national defense and also to document how people were preparing, not only spiritually, to defend themselves against an attack from the country of my origin. I must have traveled occasionally, even abroad.
Actually, I should say "we" because the lens is basically a separate and independent personality. But we have shared our experiences for so many years that I can speak for both of us. Unlike me, my attached Summarit 5cm f/2 is very silent, but it observes the world tirelessly and precisely.
At some point, I was no longer considered modern and contemporary enough and was decommissioned. From then on, I was condemned to a dreary and deadly life in dark cabinets and drawers for many years.
But some time ago, I was actually cleaned and serviced – and now I found a person who promised to walk with me through the streets and alleyways, and that I would actually be allowed to take pictures again. And with a really fantastic film and a light meter that matches my precision. I am thrilled – we are thrilled!
(Part of the series: A picture and a story. Copyright by Secretary, 2024, all rights reserved.)
Aus dem Leben einer Kamera --- From a camera's life
Als Leica IIIb bin ich ein Kriegskind – oder zumindest fast. Die Seriennummern von mir und meinem Objektiv deuten darauf hin, dass wir im Jahr 1939 erbaut wurden, ich vielleicht auch 1940 – also zu jener Zeit, als das ruhmgekrönte Morden wieder einmal von der Welt Besitz ergriff.
An meine Anfangszeit erinnere ich mich nur in Form unscharfer Schemen; ganz so, wie es bei Aufnahmen mit einem falsch fokussierten Objektiv der Fall ist. Und vielleicht ist das auch besser so, wer weiss.
Den Krieg habe ich durchaus mitbekommen, aber etwas indirekt. Denn ich wurde in die schöne und neutrale Schweizerische Eidgenossenschaft exportiert; also in ein Land, das nicht direkt verwickelt, aber doch stark betroffen war. Mir scheint plausibel, dass ich zunächst von einer Zeitungsredaktion erworben wurde. Dort half ich, die Idee der Geistigen Landesverteidigung zu verbreiten und auch zu dokumentieren, wie man sich keineswegs nur geistig auf die Abwehr eines Angriffs aus dem Land meiner Herkunft vorbereitete. Ich bin wohl gelegentlich auf Reisen gewesen, auch im Ausland.
Eigentlich sollte ich «wir» sagen, denn das Objektiv ist ja im Grunde eine eigene und selbstständig Persönlichkeit. Aber wir haben über so viele Jahre alle Erlebnisse geteilt, dass ich schon für uns beide sprechen darf. Überhaupt ist mein angesetztes Summarit 5cm f/2 im Gegensatz zu mir selbst sehr schweigsam; es beobachtet die Welt aber unermüdlich und präzise.
Irgendwann wurde ich als wohl nicht mehr genügend modern und zeitgemäss empfunden und ausgemustert. Von da an war ich für viele Jahre zu einem trostlosen und todlangweiligen Leben in dunklen Schränken und Schubladen verdammt.
Doch vor einiger Zeit wurde ich tatsächlich gründlich gereinigt und gewartet – und kam jetzt zu einem Menschen, der versprochen hat, mit mir durch Strassen und Gassen zu schlendern, und dass ich tatsächlich wieder photographieren – oder sagt man heute «fotografieren?» – darf. Und dies mit einem geradezu phantastischen Film und begleitet von einem meiner Präzision ebenbürtigen Belichtungsmesser. Ich freue mich riesig – wir freuen uns riesig!
(Teil der Serie: Ein Bild und eine Geschichte. Copyright Der Sekretär, 2024. Alle Rechte vorbehalten.)
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As a Leica IIIb, I am a child of war, or almost. The serial numbers on me and my lens indicate that we were built in 1939, perhaps I was built in 1940 – the time when glorious murder was once again sweeping the world.
I only remember my early days as blurry silhouettes, just like when you take a picture with an out-of-focus lens. And maybe it's better that way, who knows.
I experienced the war, but somewhat indirectly. I was exported to the beautiful and neutral Swiss Confederation, a country that was not directly involved, but was nonetheless severely affected. It seems plausible to me that I was first acquired by a newspaper editorial office. There I helped to spread the idea of spiritual national defense and also to document how people were preparing, not only spiritually, to defend themselves against an attack from the country of my origin. I must have traveled occasionally, even abroad.
Actually, I should say "we" because the lens is basically a separate and independent personality. But we have shared our experiences for so many years that I can speak for both of us. Unlike me, my attached Summarit 5cm f/2 is very silent, but it observes the world tirelessly and precisely.
At some point, I was no longer considered modern and contemporary enough and was decommissioned. From then on, I was condemned to a dreary and deadly life in dark cabinets and drawers for many years.
But some time ago, I was actually cleaned and serviced – and now I found a person who promised to walk with me through the streets and alleyways, and that I would actually be allowed to take pictures again. And with a really fantastic film and a light meter that matches my precision. I am thrilled – we are thrilled!
(Part of the series: A picture and a story. Copyright by Secretary, 2024, all rights reserved.)