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in einem NVA-Fotolabor

Wer Politik als Kampf um Wahrheit versteht, wird weder der Wahrheit noch der Politik gerecht. Die verschiedenen Fraktionen des Bürgertums definieren sich nicht mehr über Klasse, Milieu, Lobby oder Weltentwurf, sondern darüber, dass man im Gegensatz zu den anderen die Wahrheit besitze. In der Politik aber geht es um Interessen, um die Frage, wie die Welt eingerichtet werden soll.

Von Felix Bartels, www.jungewelt.de/artikel/412578.politik-und-wahrheit-quer...

 

Die Aufgabe der Linken scheint heute eher schwierig denn schwer. Wie je führen sie ihr bisschen Kampf gegen die kapitalistische Barbarei – die Verarmung der Menschen, den Rückbau des Staates, den imperialistischen Dauerkrieg. Doch dabei müssen sie sich beharrlich abgrenzen von der Perfomance jener neueren Querfront, die den marxistisch begründeten Klassenkampf durch einen allgemeinen Widerstand gegen Die-da-oben zum Wohl einer vagen »Zielgruppe Mensch« ersetzt hat. Und bei dieser Abgrenzung wiederum dürfen sie nicht in die Spur jener bloß noch Kritik treiben wollenden Postlinken geraten, die, unrettbar geblitztdingst vom liberalen Denken, diese Abgrenzung gegen die Querfront für den Hauptkampf, die Freiheit des Westens für die Hauptsache und die NATO für so was wie ein Instrument der globalen Emanzipation halten.

 

So erhellend der im Juni dieses Jahres erschienene ARD-Podcast »Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?« war, weil er die Agitation der Querfront als Instrument der Vermögensbildung beschreibt, so sehr verkörpert er seinerseits eine sich als Gesellschaftskritik verstehende Haltung, aus der sämtliche Gesellschaftskritik verschwunden ist: Wo kommt bloß all der Hass her? An uns kann es doch nicht liegen. Er wird herbeiorganisiert von wütenden Wortkriegern und aus Moskau gelenkten Trollen. So oder so ähnlich salbadert die Mehrheitsgesellschaft vor sich hin, sobald sie der Querfront ansichtig wird. Nicht in politischen Missständen, in der falschen Kritik dagegen macht sie das Grundübel der Zeit aus. Wir alle gegen Ken. Der konveniente Spott über das alternative Denken, von den Spiegelfechtern der Kulturindustrie entfaltet – sie mögen Niggemeier heißen, Böhmermann, Lobo, Reschke, Walulis, Welke, Ehring oder Bosetti –, lässt sich als Apologie verstehen, die von sich nichts wissen will: Wenn sie den wütenden Weltverbesserern nachweisen, wieviel Quatsch in ihrem Glauben steckt, brauchen sie den eigenen Glauben nicht mehr zu prüfen. Das ist praktisch, weil man auf diese Weise zugleich kritisch handeln und affirmativ leben kann.

 

Schiefe Metapher

Zum Leitmotiv des Jebsen-Podcasts wurde folgerichtig die Metapher vom »Rabbit Hole«, denn dieser Zugriff steht geradezu idealtypisch für eine unpolitische Weise, sich mit Politik zu befassen. Der Ausdruck stammt in seiner neueren Bedeutung – ursprünglich findet man ihn natürlich bei Lewis Carroll – vom New York Times-Kolumnisten Kevin Roose und soll die Wirkung von Internet-algorithmen auf das politische Bewusstsein bildlich machen. Dabei geht es um Verknüpfung ähnlicher und Herausfilterung nicht passender Inhalte durch den Anbieter, eigentlich zum pekuniären Zweck, den Konsumenten möglichst lange an das Angebot zu binden. Der politische Effekt ist kollateral. Menschen, heißt das, die sich auf Youtube Verschwörungsgefasel in Kette anschauen, weil sie stets mit einem passenden Anschlussfilm versorgt werden, können der Welt wie in einem langen Tunnel, einem Kaninchenbau, verloren gehen. Der Gedanke ist nicht dumm, Marc-Uwe Kling hat ihn in »Qualityland« (2017) vorgeformt, ebenso die HBO-Produktion »Brexit: The Uncivil War« (2019) oder die Netflix-Dokus »The Great Hack« (2019) und »The Social Dilemma« (2020). Die rechte Hysterie während der sogenannten Flüchtlingskrise, der Wahlsieg Donald Trumps, das EU-Votum der Briten und der Skandal um Cambridge Analytica werden als Etappen kenntlich.

 

Die Sache nämlich wächst weiter. Heute, da Unlust zu solidarischem Handeln und kleinbürgerlicher Trotz gegen Staatlichkeit eine Negativkoalition aus Coronanarren konstituiert und die vorher lose verknüpfte Querfront unter dem Etikett »Querdenker« auch im Wortlaut zu sich gefunden hat, könnte wohl jeder wenigstens ein bis zwei Bekannte aufzählen, die sich in einem dichten Netz alternativer Informationen verloren haben, offenkundig für immer. Sie sind, wie der urbane Jargon es ausdrückt, lost. Das scheint in der Tat von den Mechanismen des Internets abzuhängen. Spinner mit dem Bedürfnis, sich eine Gegenwelt zu bauen, gab es schon immer, doch es fehlte vormals an medialem Material und sozialen Kontakten. Durch das Internet kann heute jeder eintauchen in eine kaum noch durchlässige Blase, deren Informationen nur aus einer Richtung kommen und von einer Nischenindustrie am Fließband produziert werden. Digitale Vernetzung ermöglicht zudem Milieubildung. Menschen, die einst einsam ihr TV-Gerät beschimpften, erfahren heute voneinander. Und die ersponnene Gegenwelt, nicht länger eingepfercht in Kopf und Wohnzimmer der Befallenen, weitet sich im Milieu der Spinner zur wirklichen Welt. Als Theorie zum Scheitern verurteilt, erlangt sie durch kollektive Praxis eine Art Vorhandensein. Sie wird wahr, weil Leute sich danach verhalten. Man darf hier durchaus an das Ende des »Foucaultschen Pendels« denken. Was 1988 noch irgendwie Blödsinn war, bekam durch die Erfindung des Web 2.0 nachträglich einen Sinn.

 

So weit, so schief. Technisch scheint die Metapher vom Rabbit Hole adäquat. Dass sie zur Erklärung gesellschaftlicher Probleme nicht taugt, liegt an ihrer politischen Indifferenz. Indem das Gegenbild, das die Spinner sich von der Welt machen, als falsch identifiziert wird, bekommt das geläufige Weltbild, ohne dass irgendwas weiter geschehen musste, den Anschein der Wahrheit. Wenn ich behaupte, dass die »Querdenker« im Kaninchenbau verlorengegangen sind, rufe ich zugleich die Vorstellung auf, dass wir hier draußen in der wirklichen Welt stehen. Alle Versuche der Mehrheitsgesellschaft, die schmuddeligen Abweichungen von ihr zu fassen, langen ins Leere, weil sie andernfalls Fragen zulassen müsste, durch die sie sich selbst in Frage stellte. Weil sie die eigenen Anteile an der Misere identifizieren und einen Blick aufs Ganze gewinnen müsste, den sie als gleichfalls Involvierte nicht haben kann. Wer vom Kaninchenbau redet, fällt selbst hinein.

 

Mythen der Mehrheitsgesellschaft

Zunächst schon im Faktischen. Wer hier draußen über die Wiesen hoppelt, findet die nämliche Versammlung aus Hörensagen, halbgaren Ableitungen, nützlichen Narrativen und ordinären Lügen wie unten bei den Karnickeln. Die Leute hier lachen gern über Chemtrails, Mondlandungstheorien und das »9/11-Truth Movement«. Rudolf Scharpings Hufeisenplan, die China-Märchen der Falun-Gong-Sekte oder die These vom RAF-Mord an Detlev Rohwedder halten sie für wahr. Es klingeln die Alarmglocken bei der »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung«, während der »Holodomor« bis heute als wenigstens diskutierbar gilt. Man denkt bei Breitbart und RT Deutsch an Desinformation, doch bei Bellingcat und Bild TV an investigative Recherche. Man hält Julian Assange für durchgeknallt, Alexej Nawalny aber für einen Ehrenmann. Und wenn der Putin-Beißer Boris Reitschuster bei seinen Leisten geblieben wäre, statt sich mittels Coronaspinnereien ins Abseits zu manövrieren, gälte er nach wie vor als seriöser Journalist und nicht als die Springer-kompatible Variante Daniele Gansers. Auch die Mehrheitsgesellschaft hat eine Kultur von Mythen, die man nicht glaubt, weil ausgemacht viel für sie spräche, sondern für wahr hält, weil sie den politischen Gegner treffen.

 

Doch da liegt mehr im Pott als bloß die Fakten. Dieses Draußen hier ist nicht die wahre Welt, es ist die erscheinende. Von Wahrheit geht erst zu sprechen, wo ein Begriff gebildet wurde. Die Erscheinungen stellen dazu lediglich das Material. Und da muss, hinsichtlich der Menge des sich darbietenden Materials, gelernt werden, zwischen nackten Umständen, ideologischen Eintrübungen und schnödem Trug zu unterscheiden. Die Eintrübungen besitzen ihrerseits etwas wie Wahrheitscharakter, weil sie nicht beliebig passieren, sondern in der Art, in der eine Gesellschaft sich über sich selbst täuscht, die Art der Gesellschaft widergespiegelt wird. Das Falsche ist am falschen Bewusstsein das Wahre. Gleichwohl kann, wer Materialismus und Ideologiekritik für identisch hält, nie materialistische Analyse und immer bloß Ideologiekritik treiben. Und daher schlechte Ideologiekritik, die kein Gramm mehr wiegt als der Jargon, in dem sie sich darbietet. Auch hier draußen also bedeutet die Überwindung der naiv-empiristischen Affirmation nicht zwingend gleich einen Zugang zur Wahrheit, auch hier kann man sich in esoterische Konstruktionen einspinnen, was übrigens nicht nur die Vernunftkiller des späten Bürgertums betrifft – Lyotard, Adorno, Popper, Hayek, Fukuyama usf. –, selbst marxistisches Denken kann den materialistischen Zugriff unterlaufen (wenngleich es dazu, anders als die Strömungen des bürgerlichen Niedergangs, noch denaturiert werden muss).

 

Folglich besteht zunächst einmal nicht mehr als ein Konkurrenzverhältnis zwischen etabliertem und alternativem Denken. Und obgleich sich das Machtverhältnis der beiden nie umkehren wird, da das alternative, stets hermetische Denken allein in der Enge des Kaninchenbaus betriebsfähig bleiben kann, steigt die Angst der Mehrheitsgesellschaft, die Kontrolle zu verlieren über das, was allgemein für wahr gehalten wird. Denn in der Tat haben die beschriebenen Mechanismen des Internets dem alternativen Denken erstmals eine Art Waffengleichheit ermöglicht. Es kann sich ausweiten und dennoch hermetisch halten. Aber eben nur im eigenen Bereich, dem Kaninchenbau.

 

Melodie & Rhythmus, Jetzt am Kiosk, Thomas J. Richter

Das alternative Denken bezahlt seine Festigkeit mit einem Mangel an Reichweite. Das etablierte Denken bezahlt seine Reichweite mit der stets dräuenden Unsicherheit, dem Gefühl, angreifbar zu sein. Seine Welt ist weit, aber es muss sie sich teilen. Zugleich erwächst daraus eine sekundäre Sicherheit: Der weltanschauliche Unrat kann im weiten Raum besser versteckt werden. Und diese Welt draußen bleibt, im Gegensatz zur rein ersponnenen Gegenwelt, durchaus noch mehr als bloß ein gedankliches Konstrukt. Sie enthält nicht nur Spinnereien, sondern immer auch die Stoffe, aus denen Begriffe gebildet werden können. Aber das, wie gesagt, passiert nicht von selbst, weil Wahrheit eine Sache ist, die erarbeitet werden muss.

 

Auftritt der »Veritaten«

Zum einen nämlich ist Wahrheit als Kategorie des Politischen nicht fassbar, zum andern zeigt sich der Wahrheitsbegriff, so wie er im politischen Geschäft von heute umläuft, als fruchtlose Setzung. Die Rede vom Rabbit Hole verdeckt den politischen Charakter der stattfindenden Kämpfe, doch sie kann das nur, weil in diesen Kämpfen gar kein politischer Charakter steckt. Sie ist eine Lüge über eine Lüge. Paradoxerweise hat die Wahrheit in dem Moment verloren, wenn geglaubt wird, es gehe in der Politik eigentlich um Wahrheit. Passenderweise wird von Wahrheit in der Politik immer dann gesprochen, wenn in ihr kein politischer Gehalt und also auch keine Wahrheit mehr steckt.

 

Ich habe 2014, als die »Querdenker« noch nicht »Querdenker« hießen – während der Ukraine-Krise und des ersten großen Pushs der heutigen Querfront, die in sich selbst eine »neue Friedensbewegung« zu erblicken meinte –, den Ausdruck »Veritaten« benutzt. Damit sollte eine bestimmte Art, Politik zu treiben, bezeichnet sein. Eine Nichtpolitik recht eigentlich, die dorthin, wo vorher politischer Inhalt saß, nun die Wahrheit stopfte. Was mir damals noch fehlte, das ist die Beobachtung, dass dieser Vorgang nicht auf die Nischen der politischen Topographie beschränkt bleiben, sondern universell werden wird. Wahrheit scheint heute zum Code aller Parteien geworden. Beide Frontseiten innerhalb des bürgerlichen Komplexes – die dunkle (Pegida, AfD, »Querdenker«, Verschwörungsideologen) ebenso wie die helle (»Groko«-Deutschland, Grün- und Gelbliberale, EU-Patrioten, NATO-Linke) – hantieren mit adäquaten Begriffen: Mut zur Wahrheit, Lügenpresse, Truth Movement, Infokrieg, Trollfabriken, Fake News, Faktencheck, Filterbubble, Verschwörungsdenken, Populismus und letzthin eben auch – Rabbit Hole. Man definiert sich nicht mehr über Klasse, Milieu, Lobby oder Weltentwurf, sondern darüber, dass man im Gegensatz zu den anderen die Wahrheit besitze.

 

In der Politik aber geht es um Interessen, um die Frage, wie die Welt eingerichtet sein soll. Will ich Wachstum oder Umweltschonung, Reichtum oder Gleichheit, Akkumulation oder soziale Gerechtigkeit, Arbeit oder Genuss, Emanzipation oder Tradition, Freiheit oder Demokratie, Planung oder Spontaneität, Frieden oder Intervention? Jeder, der politisch denkt, muss auf diesen Skalen seine Punkte setzen. Die erste Frage, die sich danach stellt, ist, ob sich meine politischen Ziele innerhalb der vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen umsetzen lassen. Davon hängt die zweite Frage ab, wie ich die Umsetzung meiner Ziele konkret angehen kann. Nicht früher als an dieser Stelle kommt die Wahrheit ins Spiel, denn List der Vernunft hin oder her: Wenn ich die Welt verändern will, schadet es nicht, ein weniges von ihr begriffen zu haben. Wahrheit ist Mittel, nicht Zweck der Politik. Wo das genuin politische, also sittliche Interesse der Politik geleugnet wird, ist die erste Lüge erzählt, und auf dem Grund dieser Lüge kann nichts Wahres mehr wachsen. Es wäre also nicht nach der wahrheitlichen, sondern der sittlichen Differenz der kämpfenden Parteien zu fragen, aber gerade hier wird die Antwort peinlich.

 

Tatsächlich haben die gegeneinander prallenden Strömungen – die Spinner also und die Mehrheitsgesellschaft – keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten. Zwischen Wolfgang Wodarg und Karl Lauterbach, Ken Jebsen und Angela Merkel, Jens Berger und Claus Kleber liegen keine Welten. Sie stehen sämtlich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft, fühlen demokratisch und handeln liberal, alles innerhalb der vorherrschenden Rechts- und Wertekoordinaten. Hier mag einem Freuds Figur des Narzissmus der kleinen Differenzen einfallen: Gerade, wo Unterschiede zwischen Gruppen kaum vorhanden sind – Österreicher und Deutsche, Schalker und Dortmunder, Pokemon und Digimon –, muss eine tiefe Kluft inszeniert werden. Das geschäftige Herbeireden der Wahrheit ist Flucht vor der Wahrheit. Der nämlich, dass man sich lediglich in der Frage des Personals uneinig ist. Nicht im Ob, und nicht einmal im Wie.

 

Wo Wahrheit zum Ziel des Politischen erklärt wird, vollzieht sich aber nicht nur eine Entpolitisierung der Politik im Namen der Wahrheit, sondern auch eine Entwahrheitung der Wahrheit aus Gründen der Politik. Für Veritaten aller Richtungen gilt: Ihre Wahrheit hat wenig mit Theorie zu schaffen. Es bedarf bei ihnen weder besonderer Anstrengungen noch weiterer Fähigkeiten, die Dinge zu durchsteigen. Wichtig ist zu wissen, wo der Gegner steht. Ideologiekritik und Psychologie, sofern überhaupt bemüht, bleiben volkstümlich. Argumentative Strukturen sind eigentlich nur in dem Sinne vorhanden, als die Text- und Redebeiträge der Veritaten sich wie Panoptiken klassischer Fehlschlüsse ausnehmen. Reflexion und methodologische Überlegungen werden grundsätzlich gemieden. Politische Ökonomie findet allenfalls in vulgärer Form statt: Folge dem Geld oder so. Eigentlich geht es immer bloß darum, irgendwelchen Hintermännern auf die Schliche zu kommen.

 

Damit hängt die Ausprägung eines emphatischen Wahrheitsbegriffs zusammen. Es kommt, heißt das, kaum mehr darauf an, Gedanken zu entwickeln. Erkenntnis ist hier Besitz, nicht Arbeit. Eine so erlangte Wahrheit muss man schon glauben, um sie zu glauben. Sie erhält, mit einem Wort, den Charakter der Offenbarung. Und wenn sie einmal geglaubt wird, ist sie unangreifbar geworden, kann nicht von Wissenschaft falsifiziert noch von Philosophie im Höheren aufgehoben werden. Ich mache es anschaulicher.

 

Eine Frage der Entscheidung

Bevor Todd Philipps’ »Joker« 2020 die »Querdenker« in Verzückung setzte – wir erinnern uns, wie Jebsen nach Alex Jones sich das Gesicht bepinselte –, war wohl »The Matrix« (1999) der wichtigste filmische Bezugspunkt des alternativen Denkens. Darin bietet der Adept Morpheus seinem Rekruten Neo, der übrigens einem Kaninchen folgend in die alternative Welt gerät, eine rote Pille und eine blaue Pille an. Schluckt Neo die blaue Pille, wird er erwachen und die Welt wieder so sehen wie je. Schluckt er die rote, wird er sie sehen, wie sie wirklich ist. In diesem Motiv haben wir einen exakten Ausdruck des emphatischen Wahrheitsbegriffs. Da nach der Erzählung des Films die Gegenwelt hinter der Erscheinungswelt nicht eingebildet sein soll, lässt sich das Motiv der roten und blauen Pille nicht als Ideologiekritik oder dergleichen interpretieren. Es bedeutet, was es bedeutet: Um die Welt zu erkennen, muss man sich von einer chemischen Substanz abhängig machen, muss eine Droge nehmen.

 

Die chemische Substanz ist natürlich ihrerseits Metapher. In »Matrix« war es die Pille, in Carpenters »They Live« (1988) noch eine Brille. Beide Tools stehen für Geistiges: einen bestimmten Gehalt, den man sich vorab eingeflößt hat, eine Erkenntnis vor der Erkenntnis. Das Denken kann, so die Botschaft, aus sich selbst heraus und lediglich mit dem ihm angebotenen Weltstoff die richtige Erkenntnis nicht erreichen. So legt es, von außen angestoßen, einen Schalter um, wonach nichts mehr scheint wie vorher. Kurzum, der Schwerpunkt der Welterkenntnis wandert von der Ableitung in die Prämisse. Wahrheit – seit Thomas von Aquin als Übereinstimmung von Sache und Definition definiert, womit gefordert war, dass sie am Ende der Erkenntnisarbeit stehe, nicht an deren Anfang – wird hier zu einer Frage der Entscheidung.

 

Das fühlt sich radikal an, vor allem für den Betroffenen selbst. »Querdenkende« verstehen sich als Zeitgenossen, die nicht alles schlucken, denen man nicht alles auftischen kann. Sie haben ihre Wahrheit von außen erhalten, doch ab dort jeglichem Zugriff von außen entzogen. Ihre Radikalität ist ein Disclaimer: »Dem, der es nicht sieht, kann ich es nicht erklären.« Das schwache Kalkül wird durch die starke Prämisse ausgeglichen. Und psychologisch besehen funktioniert die Abhängigkeit in beide Richtungen: Wer in der Theorie schwach ist, muss das durch starke Prämissen kompensieren; wer starke Prämissen bevorzugt, braucht sich in der Theorie nicht mehr das Äußerste abzunötigen. Der emphatische Wahrheitsbegriff soll die politische Überzeugung unangreifbar machen. Sie braucht diesen Schutz, weil sie ständig bedroht wird – von neuen Informationen, Weiterentwicklungen der Lage usf. Politik, die sich als Äußerung sittlicher Substanz versteht, kann sich leisten, auf Veränderungen zu reagieren. Wo der theoretische Gehalt dagegen selbst Inhalt der Politik geworden ist, wird er, der eigentlich absichern soll, selbst der Absicherung bedürftig.

 

Veritable Erkenntnisarbeit hat kaum je an der Prämisse stattzufinden, sondern im Kalkül: darin, wie der Verstand abläuft, in seiner Art, das Material zu verarbeiten. Der Anspruch, bereits die Wurzel, das Material selbst prüfen zu müssen, ist nur scheinbar besonders gründlich. Es fällt aus der Gleichung, dass in einer komplexen und immer schon medial vermittelten Welt ernstliche Falsi- oder Verifizierung des Überlieferten so gut wie nie möglich ist. Auch die Vertreter der Gegenwahrheit glauben irgendwelchen Quellen, Daten, Zeugen, auf deren Prüfung sie dann bloß weniger Eifer anwenden als bei denen der offiziellen Lesart. Zum anderen folgt aus der Suche, wer da jetzt wirklich wann genau welchen Knopf gedrückt hat, so gut wie nie was von Belang. Materialistische Analyse fragt nach geostrategischen und ökonomischen Interessen, nächsthin nach Ideologie und kulturellen Mechanismen, die Wer-wann-was-Ebene benötigt sie kaum. Bei der Bestimmung zum Beispiel des NATO-Feldzugs in Afghanistan spielt keine Rolle, ob irgendwann am Anfang mal eine False-Flag-Operation stand oder die US-Regierung lediglich eine günstige Gelegenheit genutzt hat. Es ändert nichts an der Struktur des Konflikts, nichts an seinem imperialistischen Charakter. Drittens ist die Vorstellung, man könne so etwas wie eine unbefleckte Situation der Erkenntnis schaffen – eine Prüfung der blanken Fakten, bevor dann die Erkenntnisarbeit beginnen kann –, irgendwas zwischen naiv und ihrerseits korrupt. Denn diese Fakten sind nicht nur von den Quellen abhängig, sondern auch vom Subjekt, das sie bewertet. »Querdenker« selektieren und gewichten wie jeder andere auch. Sie denken – ihre an sich bekloppte Selbstbezeichnung ist hier seltsam ehrlich – nicht besser, bloß schief.

 

Man stürzt sich also nicht deswegen nicht in den Kaninchenbau, weil hier draußen die Wahrheit schon längst am Tage liegt, sondern deswegen nicht, weil sie allein hier draußen gefunden werden kann. Mit der Flucht in die Gegenwelt werden nur die alten Unzulänglichkeiten auf engerem Raum wieder hergestellt. Die Ableitung ist der Star, nicht die Prämisse. Wer einen Begriff von der Welt erhalten will, bleibe am Tageslicht.

 

Platoniker von heute

Hierhin gelangt, könnten wir die Sonne sinken und den Abend bei Kaninchen in Weißweinsauce ausklingen lassen. Die Story des alternativen Denkens mag weniger öde sein als ein »Tatort« aus Münster, doch sie ist auserzählt: Bei der Politik tritt die Erkenntnis an die Stelle der Entscheidung, bei der Wahrheit die Entscheidung an die Stelle der Erkenntnis. Alles steht kopf. Bizarrerweise drängt sich gerade dort Platon ins Spiel. Die »Querdenker« werden es nicht wissen, aber er ist ihr Stammvater. Sein »ethischer Intellektualismus«, ausgebreitet in den Dialogen »Menon« und »Philebos«, deutet gesellschaftliches Handeln zu einer Frage der Erkenntnis um, und in seiner berühmtesten Metapher, dem Höhlengleichnis aus der »Politeia«, findet eben jener Transfer von der Ableitung in die Prämisse statt, den wir heute bei den Erleuchteten der Querfront beobachten. Der Autor der »Politeia« empfiehlt, direkt ins Licht zu schauen, wobei man zuerst einmal gar nichts sehe. Die Augen, disclaimt er, müssen sich ans Licht gewöhnen, also daran, bald alles ganz anders zu sehen. Wie das Kennzeichen der Platonischen Philosophie überhaupt die schroffe Entgegensetzung von Wesen und Erscheinung ist. Für Platon kann das Phänomen nichts Wahres enthalten, auch nichts dialektisch Vermitteltes, es scheint bei ihm immer bloß Täuschung. Er muss eine dieser roten Pillen eingeworfen haben; irgendwann hörte die Gedankenwelt auf, Gedankenwelt zu sein, und trat an die Stelle der wirklichen Welt. Zwar beschreibt das Höhlengleichnis einen Gang hinauf, während der Kaninchenbau hinab reicht, doch nimmt ja ein jeder »Querdenker« sein Hinab als Hinauf wahr. Platon verbildlicht exakt den tiefen Fall ins Rabbit Hole, nur aus der Perspektive des Betroffenen. Sein Höhlengleichnis ist bei Lichte besehen ein Höllengleichnis. Vielleicht gewährte man den »Querdenkern« etwas mehr Respekt als verdient, wenn man sie als Platoniker unserer Tage bezeichnete, doch dann hätten sie wenigstens einen akkuraten Namen.

 

 

Wieso müssen »Linke« sich unbedingt »beharrlich abgrenzen« von gesellschaftlichen Gruppierungen, denen »allgemeiner Widerstand« näher liegt als »marxistisch begründeter Klassenkampf«? Da lacht sich das Kapital mal wieder ins Fäustchen! Dabei wäre auch Widerstand in Vielfalt denkbar – und wegen Synergieeffekten womöglich effektiver! Das Abgrenzungsgehabe der »reinen Lehre« dagegen hat schon oft genug in Zersplitterung und Unglück geführt …

 

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Uploaded on October 19, 2021
Taken on May 8, 2021