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T-34 ist geil / T-34 круто

In Berlin war am vergangenen Samstag fast eine Viertelmillion auf den Beinen, um an der #unteilbar-Demonstration "Solidarität statt Ausgrenzung" teilzunehmen. Die Leute verhielten sich friedlich, gut gelaunt und nicht gerade wie Getriebene. Das unterschied sie sichtlich von den brüllenden, verkniffenen und wütenden Haufen, wie sie auf Nazidemos zu sehen sind (sowie von den geifernd-zynischen Gesichtern der AfD-Oberen)

[Eine Analyse von Gero von Randow, aus www.zeit.de/kultur/2018-10/unteilbar-demo-berlin-fluechtl...]

 

Die Schreckstarre ist aufgelöst. Was mit kleineren Kundgebungen für ein offenes Europa begann, mit netzbasierten Initiativen und Demos gegen Naziaufmärsche weiterging, mündete in den vergangenen Tagen in beeindruckenden Massendemonstrationen, deren Teilnehmer sich grosso modo dem politischen Spektrum von liberalkonservativ bis links zuordnen ließen. Im konservativen Bayern wiederum scheiterte die CSU mit ihrer Strategie, dem Merkel-Hass der AfD mit Seehofereien den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie verlor Stimmen an die AfD – und noch mehr Stimmen an die Grünen. Was bedeutet das alles?

Beginnen wir mit der scheinbar banalen Tatsache, dass sich überraschend viele Körper bewegt haben. Was hat sie mobilisiert? In Berlin war am vergangenen Samstag fast eine Viertelmillion auf den Beinen, um an der #unteilbar-Demonstration teilzunehmen. Die Leute verhielten sich friedlich, gut gelaunt und nicht gerade wie Getriebene. Das unterschied sie sichtlich von den wütenden Haufen, wie sie auf Nazidemos zu sehen sind. Hass und Wut sind starke Antriebskräfte, sie setzen die Körper mit Leichtigkeit in Bewegung; guter Wille und Bürgersinn allein haben nicht diese Kraft. Da muss schon ein Gefühl der Dringlichkeit hinzutreten.

 

Elf Prozent aktive Flüchtlingshelferinnen und -helfer

Die Teilnehmenden der jüngsten Massendemonstrationen, deren Anzahl selbst Optimisten verblüffte, waren keineswegs aus dem Nichts aufgetaucht. Vor einem Jahr untersuchten die Allensbacher Demoskopen die Bereitschaft der Deutschen, neu angekommenen Migranten zu helfen. Und siehe da: Sie ermittelten elf Prozent "aktive Helferinnen und Helfer. Diese Aktiven unterstützen Flüchtlinge bei Behördenkontakten, begleiten sie zu Arztbesuchen, unterrichten Deutsch oder verbringen Freizeit mit den geflohenen Menschen. Ein Teil der Helferinnen und Helfer hat auch Patenschaften für Flüchtlinge übernommen oder lässt sie bei sich wohnen."

Elf Prozent Aktive. Eine beeindruckende Zahl. Diese elf Prozent entsprechen rund neun Millionen Menschen. Und die sind nur der aktive Kern; um sie herum dürfte es noch viele Male mehr Bürger geben, die den Migranten gegenüber so etwas wie Nächstenliebe empfinden. Man darf vermuten: Sie sind die Mehrheit. Eine Mehrheit, die den Einzug der AfD in die deutschen Parlamente als Bedrohung ansieht. Ein daraus resultierendes Gefühl der Dringlichkeit könnte übrigens auch etliche Bürger Bayerns, die am vergangenen Sonntag lieber zu Hause geblieben wären, auf den Weg ins Wahllokal getrieben haben. Mit 72 Prozent war die Wahlbeteiligung so hoch wie seit 1982 nicht mehr.

 

Die große Koalition ist kein Bollwerk gegen Nationalismus und Reaktion

Vor dem Hintergrund dieser Stimmungslage sind die neuen Signale zu analysieren. Das eigentlich Interessante an ihnen ist weder die altbewährte Form der Demonstration mitsamt der eingebetteten Happenings wie in Berlin, noch die Vielfalt der Bündnispartner. Nein, neu ist vielmehr, dass in Berlin, Hamburg und anderswo der Wille spürbar wurde, aus der Defensive zu kommen. Also nicht nur die Grundrechte und den Rechtsstaat als etwas Bestehendes gegen seine Feinde zu verteidigen, sondern auch Veränderungen in der Politik zu verlangen. Und zwar gerade deshalb, weil sich die große Koalition eben nicht als Bollwerk gegen Nationalismus und Reaktion erwiesen hat.

Im Aufruf für die Berliner Demonstration heißt es: "Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden." Das klingt gut, wartet aber auf Präzisierung. Denn erstens: Was heißt "nicht zulassen"? Welche Politik wäre stattdessen möglich? Und zweitens: Wer ist "wir"? Welche politische Konstellation könnte das leisten?

Risiken einer offenen Gesellschaft bewusst eingehen

Schon vor der Bayernwahl hatte die allmähliche Zersetzung gegenwärtiger politischer Formationen eingesetzt. Von der CDU und der CSU über die FDP, die SPD bis hin zur Linkspartei (in der Tat: die Grünen passen nicht in diese Aufzählung) zieht sich ein Riss durch die politischen Lager, mal mehr, mal weniger ausgeprägt, entlang dessen sich die Denkweisen scheiden. Die Begriffe für diese zwei Tendenzen variieren. Man wirft sich wechselseitig Vokabeln wie "kosmopolitisch" und "nationalistisch" an die Köpfe, oder auch "neoliberal" (mit "neo" wird "liberal" erst so richtig zum Schimpfwort) und "autoritär". Die klassenpolitischen Varianten dieser Vorhaltungen lauten in etwa: urbane Privilegierte hier, dumpfe Proleten dort. Hipsterquartiere hier, Plattenbauten dort. Abgehobene hier, Abgehängte dort. Etwas weniger farbig sind die jeweils eigenen Positionen ausgemalt. Heimat oder Offenheit sind doch eher blasse Begriffe.

Vielleicht hilft es stattdessen weiter, den Begriff des Risikos auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen, um die politische Alternative zu beschreiben, vor der Deutschland steht, und nicht nur Deutschland. Politische, wirtschaftliche und kulturelle Liberalisierung und Öffnung sind riskant und es verhält sich ja nicht so, dass hierzulande allen Gesellschaftsschichten in gleicher Weise zugemutet wird, Risiken zu tragen. Wohlhabende leben abgefedert. Die Teilnahme an der Globalisierung geht allzu oft zulasten benachteiligter Schichten. So lässt es sich beispielsweise nicht von der Hand weisen, dass Städte und Gemeinden (nicht alle!) die ankommenden Geflüchteten gern dort unterbringen, wo die Grundstückspreise niedrig sind.

 

Abschottung schadet den Benachteiligten am meisten

Und dennoch, eine Politik der Abschottung wäre gerade für die Benachteiligten das größere Risiko, politisch, wirtschaftlich, kulturell, moralisch. Denn es würde ungleich verteilt werden. Mit dem Ergebnis einer Klassenspaltung in jene, die auch dann weiterhin auf der Globalisierungswelle surfen und Statusmeilen sammeln können – und all die anderen, die im Mief einer nationalbornierten gesellschaftlichen Umwelt fortexistieren würden. Ein Leben ohne die Herausforderung durch Fremde oder durch die kulturellen Umwälzungen des frühen 21. Jahrhunderts, durch Feminismus oder Umweltwissen, beschützt und behütet und gegängelt vom Vater Staat. Klingt nicht nach einem guten Leben und es kann auf Dauer auch nicht gut gehen, denn niemand kann dauerhaft aus der Geschichte austreten, schon gar nicht aus der Klimageschichte, um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen.

Die Kunst der Liberalen und Linken müsste also darin bestehen, die Risiken einer offenen Gesellschaft bewusst einzugehen, beim Namen zu nennen und gerechter zu verteilen. Fragt sich nur, welches die politische Formation wäre, das zuwege zu bringen. Die Grünen allein wären damit überfordert. Nun soll die Spekulation hier nicht zu weit getrieben werden, aber die unübersehbaren Gemeinsamkeiten jener Strömungen in CDU, FDP, SPD und Linkspartei, die eine offene Gesellschaft bevorzugen, lassen zumindest an die Möglichkeit einer neuen politischen Sammlungsbewegung, vielleicht sogar an einen Block oder gar eine neue Partei denken.

Gewiss, das streift die Grenze zum Fiktiven. Gleichwohl, neue Konstellationen, Bündnisse und irgendwann sogar bisher unbekannte Formeln der Regierungsmacht sind denkbar.

 

 

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Uploaded on October 17, 2018
Taken on October 13, 2018