Hauswand in Eberswalde, DDR, Nähe Hauptbahnhof
Ausstellung "Antifaschistische Denkmale in Osteuropa":
# bis 9. November 2018
# Eintritt frei
# in der Ladengalerie von 'junge Welt', Torstraße 6, 10119 Berlin (Nähe Rosa-Luxemburg-Platz). Öffnungszeiten: Montag-Donnerstag 11-18 Uhr, Freitag 10-14 Uhr. Kontakt: Tel. 030-536355-56
Die Ladengalerie realisiert diese Gemeinschaftsausstellung mit Fotografien von Andrea Kähler, Dagmar Rubisch, Gabriele Senft, Ernest Kaltenegger, Benjamin Renter, Alexandre Sladkevich und Jens Schulze u.a. mit Fotografien von Denkmalen in Bulgarien, Russland, Ukraine, Lettland, Litauen, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Italien (Triest). Die Ausstellung ist zu sehen bis zum 9.11.2018.
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Republikflucht hält an
Weniger Menschen, dafür mehr Arme: Trübe Aussichten für den Osten 28 Jahre nach dem Beitritt zur BRD (Andere sagen: Annexion der DDR)
(Von Nico Popp, 2.10.2018, aus www.jungewelt.de/artikel/340898.armut-und-abwanderung-im-...)
Der »Tag der deutschen Einheit« steht an; und damit einmal mehr auch die besorgte und ziemlich verlogene Frage, ob das denn alles so geklappt hat und weiterhin klappt mit dem für alle Beteiligten vorteilhaften »Zusammenwachsen von Ost und West«. Offenbar nicht: In Westdeutschland, teilte das Statistische Bundesamt am Montag mit, lebten 2017 rund fünf Millionen Menschen mehr als 1990 (plus 8,2 Prozent). Dagegen ist die Einwohnerzahl in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) im gleichen Zeitraum um rund zwei auf 16,2 Millionen (minus elf Prozent) zurückgegangen. Sachsen-Anhalt wird einer Studie des Prognos-Instituts zufolge in den nächsten beiden Jahrzehnten noch einmal jeden fünften Einwohner verlieren, Mecklenburg-Vorpommern jeden siebten.
Der Grund für die seit Jahrzehnten anhaltende Abwanderung ist eigentlich kein Geheimnis: Es war im Osten (nach 1990) lange nicht einfach, überhaupt als Lohnarbeiter Verwendung zu finden. Und die, denen das gelang und weiter gelingt, müssen ihr Leben häufig am oder nahe am Niveau des Mindestlohns ausrichten. Wer hier lebt, ist im Durchschnitt ärmer als Menschen im Westen. Der Sozialverband VdK erklärte am Montag, die Armutsquote im Osten Deutschlands sei »vor allem deshalb so hoch, weil dort so viele Menschen nur prekär und im Niedriglohnsektor beschäftigt sind«. Viele Beschäftigte erhielten nur den gesetzlichen Mindestlohn. »Er verhindert Armut nicht«, sagte Verbandspräsidentin Verena Bentele. Der Mindestlohn müsse auf über zwölf Euro angehoben, Leiharbeit und Minijobs müssten zurückgedrängt werden.
Auf das gleiche Problem hat auch die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke am Montag hingewiesen. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Zimmermann, warf der Bundesregierung bei der Armutsbekämpfung »Totalversagen« vor. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der »Einheit« sei es nicht nachvollziehbar, dass es immer noch ein deutliches Einkommensgefälle zwischen West und Ost gebe, sagte sie gegenüber dpa.
Eigentlich ist es das schon, und ändern wird es sich nicht. Prognos nimmt an, dass der Osten wirtschaftlich und sozial langfristig weiter zurückfallen wird. »Bis 2045 nimmt das Gefälle nach unseren Prognosen wieder zu«, heißt es in der Studie, aus der die dpa vorab zitierte. Liege die Wirtschaftsleistung pro Kopf im Osten heute bei drei Vierteln des Westniveaus, sinke sie bis 2045 auf weniger als zwei Drittel und damit sogar noch unter den Wert aus dem Jahr 2000. »Bei einer Fortsetzung der bisherigen Politik werden sich die materiellen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West nicht angleichen«, schreiben die Autoren. Dafür machen sie allerdings nicht die spezielle Logik der kapitalistischen Produktionsweise in Ostdeutschland, sondern »Abwanderung und geringe Geburtenzahlen« verantwortlich – so elegant kann man Ursache und Wirkung verwechseln.
Joachim Ragnitz, Koautor einer gerade veröffentlichten Studie des Ifo-Instituts, stellte unterdessen sorgenvoll fest, dass im Osten »das Vertrauen« in die »demokratischen Institutionen« geringer ausgeprägt sei als im Westen. Kritische Linke sollte das eher ermuntern. Freunde jeder Form von »Einheit« sind ihnen prinzipiell verdächtig, Rufe nach »Zusammenhalt« in einer Klassengesellschaft verhasst, »Vertrauen« in den bürgerlichen Staat gedenken sie nicht zu fördern. Sie wollen wissen, wie die Klassengesellschaft und ihr politischer Überbau funktionieren – und was man dagegen tun kann. Im Osten und im Westen.
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»Schöne Worthülsen nutzen niemandem«
Vor »Tag der deutschen Einheit«: Ostdeutsches Netzwerk kritisiert weiter bestehende Ungerechtigkeiten. Gespräch mit Matthias Werner, Präsident des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden e. V.
(Interview: Jan Greve, aus www.jungewelt.de/artikel/340805.protest-gegen-einheitsfei...)
An diesem Mittwoch steht der sogenannte Tag der deutschen Einheit an. Sie laden zu einer Protestveranstaltung, einer »alternative Einheitsfeier«, ein.
(»Alternative Einheitsfeier« am 3.10., 10 Uhr, Bürgerhaus Neuenhagen bei Berlin, okv-ev.de) Überschrieben ist diese mit dem Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Wieso ist es Ihnen wichtig, das an diesem Tag hervorzuheben?
Seit dem Anschluss der DDR an die BRD wird die Würde der Menschen in Ostdeutschland in den Dreck gezogen. Umfragen ergeben, dass sie sich weiterhin als »Bürger zweiter Klasse« fühlen. Ihre Lebensleistung wird nicht anerkannt. Und nach wie vor hinken Löhne und Renten denen im Westen hinterher. All das ist letztlich nur ein Ausdruck dafür, dass Lebensjahre in der DDR als quasi »verlorene« Jahre hingestellt werden – als Zeit, die die Menschen in einem »falschen System« verbracht haben. Es ist notwendig, den Finger in die Wunde zu legen und auf die bestehenden Ungerechtigkeiten hinzuweisen.
Der hervorgehobene Satz ist bekanntlich im Grundgesetz zu finden. Es gibt also auch Dinge in der BRD, auf die Sie sich positiv beziehen?
Dem Artikel 1 des Grundgesetzes ist nicht zu widersprechen. Wir fordern die Bundesregierung auf, dementsprechend Politik zu machen. Sie tut aber das genaue Gegenteil: Die Spaltung zwischen Arm und Reich nimmt zu, ebenso wie die zwischen In- und Ausländern. Menschen werden durch die Hartz-Gesetze gedemütigt. Die Unantastbarkeit der Würde ist also in der praktischen Politik nicht umgesetzt. Wir fordern, den Sozialabbau zu stoppen und für eine Angleichung der Lebensverhältnisse zu sorgen. Schöne Worthülsen nutzen niemandem.
Am vergangenen Mittwoch, eine Woche vor dem 3. Oktober, hat die Bundesregierung ihren Jahresbericht zum »Stand der deutschen Einheit« vorgestellt. Dort wurde ein im Grundsatz positives Fazit gezogen: Es gebe Fortschritte bei der wirtschaftlichen Entwicklung, auch wenn man noch nicht am Ziel angelangt sei. Was sagen Sie dazu?
Nach wie vor fehlen im Osten qualitativ hochwertige Arbeitsplätze ebenso wie flächendeckend gute Bildungsangebote. Die gut ausgebildete Jugend wandert in die alten Bundesländer aus. Ich will das mit einem Bild verdeutlichen. Die sächsische Stadt Görlitz hat herrliche Bauten und wird durch Restaurierung und Instandsetzung immer schöner. Aber sie ist leer. Westdeutsche Senioren werden dorthin gekarrt, um sich Eigentumswohnungen anzuschaffen, damit dort wieder jemand lebt. Das zeigt den Widerspruch: Was nutzt mir das schönste Haus, wenn ich die Miete nicht bezahlen kann? Gravierende Probleme dieser Art führen zu Unzufriedenheit in der ostdeutschen Bevölkerung. Vorne eine schöne Fassade für Gutverdienende und Superreiche, aber dahinter sieht sich der Großteil der Bevölkerung – wir reden von Millionen Menschen – mit Sozialabbau oder einer Beschäftigung im Niedriglohnbereich konfrontiert.
Bei der Vorstellung des Jahresberichts hieß es, es gebe die Lohnunterschiede zwischen Ost und West, weil die Struktur der Wirtschaftsbetriebe eine andere sei. In den alten Bundesländern seien nun mal die großen Konzerne angesiedelt. Das Argument überzeugt Sie nicht?
Ganz bestimmt nicht. Zielgerichtet wurde die Industrie der DDR zerstört – und damit auch die Möglichkeit der Menschen, ihr Leben zu gestalten oder zu verbessern. Erst wurden vorhandene Wirtschaftsstrukturen zerschlagen, um dann Almosen zu verteilen und darauf hinzuweisen, man solle sich damit zufrieden geben. Gegen solch eine Form von Geschichtsklitterung versuchen wir uns zu stemmen.
Neben diesen dicken Brettern, die Sie bohren wollen: Was ließe sich konkret und schnell in die Wege leiten, um etwas an der Situation zu verbessern?
Einfach umzusetzen wäre die Angleichung der Ost- an die Westrenten. Es ist genug Geld in den Kassen, das könnte sofort angegangen werden. Wir haben in diesem Zusammenhang eine Verfassungsbeschwerde zu dem sogenannten Rentenüberleitungsabschlussgesetz eingereicht. Mit dieser Regelung, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht hat, würde alles beim alten bleiben. Dagegen klagen wir. Derzeit sammeln wir Spenden für die Kosten der Verfahren
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Tag der Einheit?: „Das Gebiet der DDR wird vom Westen wie eine Kolonie behandelt“
(Alexander Boos, aus de.sputniknews.com/gesellschaft/20181002322501245-ossis-w...)
Die Bundesrepublik hat bei der Wiedervereinigung viele Fehler gemacht. „Der größte Fehler war, all die guten Aspekte der DDR wie Frieden oder die Sicherheit des Arbeitsplatzes einfach hinwegzufegen“, erklärte der Ost-Berliner Jurist Hans Bauer im Sputnik-Interview. „Viele Ostdeutsche fühlen sich dadurch übergangen und beleidigt.“
„Wir werden auch an diesem dritten Oktober unsere ‚Alternative Einheitsfeier‘ abhalten“, sagte Hans Bauer, Berliner Rechtsanwalt und Vorsitzender der „Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung“ (GRH), im Sputnik-Interview. Die Gesellschaft gehört dem „Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden“ (OKV) an, einem Zusammenschluss von 25 ostdeutschen Organisationen, die die jährliche Protestveranstaltung ausrichten. „Dort bringen wir praktisch unsere Bilanz zu bestimmten Themen zum Ausdruck, die die Einheit und Ostdeutschland berühren.“ Darüber berichtete auch die Zeitung „Junge Welt“ in ihrer Montagsausgabe.
„Das ist unser alternativer Protest zu den glorifizierenden offiziellen Feiern, die jedes Jahr in einem der neuen Bundesländer stattfinden“, erklärte der Ost-Berliner Jurist. „Das ist ein Gegenstück dazu. Wir bringen dort zum Ausdruck, wie es tatsächlich aussieht, wie wir es empfinden und was sich im Osten ändern müsste, um die Verhältnisse zu verbessern.“
Wirtschaftliche Schieflage Ost
Der Sozialabbau im Westen sei nur deshalb möglich, weil die DDR nicht mehr existiere. „Aber das wird man von den Machthabern in Berlin nicht erwarten können, dass sie das zugeben.“ Um tatsächlich gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West herzustellen, „müsste man ökonomisch und sozial handeln“. So schnell wie möglich müssten die Löhne und die Renten angeglichen werden.
Das ehemalige Staatsgebiet der DDR werde vom Westen wie eine Kolonie behandelt. „Ich würde mir wünschen, dass dieses Kolonialgebaren verschwindet. Dass man dazu aber auch die dafür extra eingerichteten Institutionen verändert, reformiert oder auflöst.“ Er nannte die „Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU, „Stasi-Unterlagenbehörde“) als solch eine Institution.
„Auf Befindlichkeiten der Ostdeutschen eingehen“
Der gravierendste Fehler bei der Wiedervereinigung war, dass „all das Gute abgeschafft wurde, was die DDR ausmachte. Also Frieden, Sicherheit und Arbeitsplätze“. Da es zur Zeit der Wende nicht die Möglichkeit des „gegenseitigen Einbringens von Ideen“ gab, fühlen sich heute viele Menschen im Osten „beleidigt und übergangen. Auf die Befindlichkeit der Ostdeutschen müsste man viel stärker eingehen.“
Dazu gehöre ebenso die „gleichberechtigte Geschichtsbeurteilung. Nicht: Die Einen die Guten, die anderen die Bösen. Also diese Schwarz-Weiß-Malerei der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinreicht, muss man überwinden.“ Auch die Auswahl der Gedenkorte sei falsch gewesen, weil damit die DDR „in die Nähe des faschistischen Regimes“ gestellt wird. Es gab eine lange antifaschistische Tradition in der DDR. Dagegen sei die bundesdeutsche Gedenkpolitik „eine Beleidigung“, weil die DDR-Bürger „antifaschistisch erzogen wurden. Alles das sind Dinge, die die Befindlichkeit der Menschen betreffen.“ Auch werde die Aufbauarbeit der Ostdeutschen neben weiteren kulturellen und sozialen Leistungen in der Regel „nicht anerkannt“.
(>>Andere Sputnik-Artikel: Wozu Wessis die Ossis brauchen – Westdeutsche Dominanz statt echter Einheit)
Problem des Rechtspopulismus im Osten
Die Folge dieser Vernachlässigung der Menschen durch die Bundespolitik: „Die Menschen im Osten fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Weil sie in diesem Staat, in der Bundesrepublik so behandelt werden.“ Das treibe viele in die Arme von rechtspopulistischen Parteien wie die AfD oder ähnlichen Gruppierungen, meinte Bauer auch mit Blick auf die jüngsten Vorkommnisse in der sächsischen Stadt Chemnitz.
„Irgendwo wollen sie ihren Frust loswerden. Ich glaube aber nicht, dass diese rechten Botschaften auch die Köpfe der Bürger erreichen.“ Sondern dieser Zulauf sei Ausdruck der ostdeutschen Unzufriedenheit. Das „antifaschistische Erbe“ der DDR bleibe weiterhin spürbar und in der Gesellschaft verankert, betonte Bauer.
Neuer Russland-Kurs nötig
Außerdem würde er sich einen pazifistischen Kurs in der bundesdeutschen Außenpolitik wünschen. „Was Kriege und diese ganze Militarisierung gegen Russland betrifft, muss das schleunigst aufhören“, forderte der Ost-Berliner Anwalt. „Diese Nähe, diese freundschaftliche Verbundenheit, diese Befreiung vom Faschismus durch Russland, die ist so tief eingegraben – auch bei nachfolgenden Generationen, so dass das eigentlich ein gutes Verhältnis ist. Ganz anders, als das heute von der Politik praktiziert wird. Da wurde direkt wieder eine Feindschaft entwickelt.“
Besonders bei diesem Punkt könne die aktuelle Bundesregierung einiges von der DDR lernen. Schließlich gilt die untergegangene Republik bis heute als historisch einziger Staat, der den Antifaschismus je zur Staatsdoktrin erhob.
Das Radio-Interview mit Hans Bauer (GRH) zum Nachhören:
soundcloud.com/sna-radio/ra-h-bauer-zum-tag-der-deutschen...
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„Die Restauration des Kapitalismus ist kein Grund zu feiern“ (Von Matthias Witte, aus de.sputniknews.com/gesellschaft/20181002322503880-westen-...)
An diesem Mittwoch wird der „Tag der deutschen Einheit“ gefeiert. Doch für den Armutsforscher Michael Klundt ist die „Wiedervereinigung“ kein Grund zu feiern. Schon der Begriff ist ihm zufolge ein Etikettenschwindel. Der Wissenschaftler aus Westdeutschland nennt den Prozess eine „Restauration des Kapitalismus“.
Der Politikwissenschaftler und Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Michael Klundt, stört sich aus mehreren Gründen an dem Begriff Einheit: „Rein juristisch gab es keine Einheit und keine Vereinigung nach Grundgesetz-Artikel 146, der eine neue Verfassung und eine Volksabstimmung vorgesehen hätte. Sondern es gab einen Beitritt. Oder, wie Wolfgang Schäuble 1991 sagte, es gab einen Anschluss. Ostdeutschland wurde vollständig vom westlichen System übernommen. Alle Spitzenpositionen in Wirtschaft, Militär, Justiz, Politik, hoher Ministerialbürokratie und in der Wissenschaft werden in westdeutsche Hand übergehen. Und die Treuhandanstalt besorgt noch einen gigantischen Privatisierungsprozess.“ Das sei das Problem, über das seit 28 Jahren nicht gesprochen werde.
Nach Wende: Ostdeutschland verlor zwei Millionen Einwohner
Am Einheitsbericht der Bundesregierung werde das deutlich. Klundt sagt, sicher gebe es im Osten Erfolgsgeschichten. Er nennt die Beispiele Jena und Leipzig. In diesen Städten sei der wirtschaftliche Aufschwung spürbar. Diese lokalen Erfolgsgeschichten täuschen den Armutsforscher jedoch nicht über die sozialen Unterschiede hinweg, die auch im Einheitsbericht erfasst werden: „Im Schnitt höhere Armutsquoten, höhere Arbeitslosigkeit, niedrigere Löhne, niedrigere Ausbildungsvergütungen, in der Regel mit der Arbeitslosigkeit verbunden niedrigere Renten, mehr Niedriglöhne, weniger Tarifbindung als im Westen beziehungsweise in den westlichen Flächenstaaten, und dann die Tatsache, dass nach 1990 keine einzige DAX-Firmenzentrale in den Osten gegangen ist. Das heißt, dass man im Prinzip strukturell verlängerte Werkbänke organisiert hat.“ In Summe führe das dazu, dass die Steuern weitestgehend im Westen entrichtet werden, weil die Konzernzentralen und die Forschungsabteilungen im Westen geblieben sind.
Innerdeutsche Migration nach der Wende
Ob es die Perspektivlosigkeit war oder die Hoffnung, im vermeintlich „goldenen Westen“ sein Glück zu finden, ist unklar. Fest steht: Nach der Wende fand eine gewaltige Abwanderung von Ost nach West statt. „Ich habe gelesen, dass nur in Leipzig über Nacht 100.000 Menschen ihre Arbeit verloren haben. Innerhalb kürzester Zeit verließen 700.000 Menschen Sachsen. Das ist innerdeutsche Migration. Eine solche Abwanderung muss eine Region erst einmal verkraften.“
Dann sei etwas geschehen, was der ostdeutsche Autor Olaf Georg Klein als „strukturelle Gewalt des Westens“ bezeichnete. In Zeitungsredaktionen, Verlagen und an Universitäten werden Ostdeutsche mehr und mehr zurückgedrängt und durch Westdeutsche ersetzt. Das führte zu einer Entfremdung zwischen den Eliten und der Bevölkerung.
Die Bevorzugung Westdeutscher in Führungspositionen kritisiert Klundt schon lange. Das Phänomen beobachtet er auch an den Hochschulen. Eine Erklärung dafür hat er nicht, erinnert sich aber an den Forscher Steffen Mau, der gegenüber der „Zeit“ sagte: „Wären die Ostdeutschen als solche erkennbar, hätten sie eine andere Haarfarbe oder lange Ohren, wäre eine solche Schieflage schon längst zum Politikum geworden, Rufe nach Quoten inklusive.“ Es sei einfach so auffällig, dass die Führungsebenen in Ostdeutschland, in Gesamtdeutschland sowieso, nur von Westdeutschen gestellt werden.
Frust-Ossi wählt AfD? Klundt: „Das ist zu einfach“
Das führt zur sozialen Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland, zu Frustration. Diese reicht Klundt aber nicht als Begründung, warum viele Ostdeutsche AfD wählen: „Aus meiner Sicht ist das nicht so einfach. Der Aufstieg der AfD hat auch mit dem Aufstieg von rechten, rassistischen Ideologien in der Mitte, Standortnationalismus, den Thesen von Sarrazin, die im Diskurs der Mitte etabliert wurden, zu tun. Das Reden über gierige und faule Griechen in der Wirtschaftskrise, die Verachtung gegenüber ärmeren Ländern, und das auch im vorherrschenden Mediendiskurs, nicht etwa nur bei Rechtsextremen – all das hat zu einem, man könnte schon sagen, Zivilisationsbruch in Deutschland geführt.“ Auch Hartz IV spiele eine Rolle.
Außerdem gebe es auch in Westdeutschland eine breite Unterstützung der AfD – eine wohlstandschauvinistische Basis von Menschen ohne größere soziale Probleme. Klundt geht noch explizit auf Sachsen ein, wo sich in den letzten 28 Jahren neonazistische Strukturen unter einer CDU-Regierung, die das sehenden Auges toleriert habe, sehr wohl fühlen und gut organisieren konnten. „Von der Sozialarbeit bis zur Schule, von der Politik bis zum Sportverein – die Regierungen haben weggeschaut. Jetzt ist da eine ganz neue Generation herangewachsen, die seit ihrer Kindheit nur neonazistische Propaganda kennt.“
Deutsche Einheit möglich – wenn …
Michael Klundt möchte deshalb nicht gerade die Sektkorken für den 3. Oktober knallen lassen. „Diese Restauration des Kapitalismus ist aus meiner Sicht kein Grund zu feiern.“
Bleibt die Frage, wie die Deutschen trotz sozialer Unterschiede, Frustration und bei aller Diskrepanz letztlich doch als Einheit zusammenfinden. Zu einer Einheit, die diesen Namen verdient. Laut Klundt müsste sich ökonomisch einiges tun. Konzerne müssten sich fragen, was sie bisher in Ostdeutschland getan hätten. Die westdeutschen Eliten müssten sich fragen, was sie in den letzten 28 Jahren gegen Rechtsextremismus und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unternommen haben. Der Armutsforscher richtet aber vor allem einen Appell an die Betroffenen selbst:
„Zuletzt geht es darum, dass die Menschen sich selbst organisieren. Sie müssen tatsächlich selbst ihr Leben in die Hand nehmen. Das Verführerische, was jetzt durch rassistische Angebote vorliegt, ist eine kurzzeitige Handlungsfähigkeit, die hergestellt werden kann. Man kann durch Rechtswählen oder rechtsextrem Demonstrieren sich und seine Unzufriedenheit spüren.
Aber die Frage ist natürlich: Gibt es nicht auch andere Möglichkeiten, mit anderen gemeinsam solidarisch etwas zu verändern und zu verbessern? Und das gibt es auch in Ostdeutschland. Da gibt es auch in Ostdeutschland viele Menschen, die das tun. Vielleicht wäre es da einfach wichtiger, diese Menschen zu unterstützen. Menschen, die nicht neonazistisch sind, die in Regionen Sachsens leben, die sich als national befreite Zonen betrachten. Das sind Menschen, die trotzdem als Demokraten dort weiterleben wollen, aber permanent von Neonazis mit dem Leben bedroht werden.“
Es ist ein langer Weg. Vorerst wird Michael Klundt am 3. Oktober nicht auf den „Tag der Deutschen Einheit“ anstoßen.
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Hauswand in Eberswalde, DDR, Nähe Hauptbahnhof
Ausstellung "Antifaschistische Denkmale in Osteuropa":
# bis 9. November 2018
# Eintritt frei
# in der Ladengalerie von 'junge Welt', Torstraße 6, 10119 Berlin (Nähe Rosa-Luxemburg-Platz). Öffnungszeiten: Montag-Donnerstag 11-18 Uhr, Freitag 10-14 Uhr. Kontakt: Tel. 030-536355-56
Die Ladengalerie realisiert diese Gemeinschaftsausstellung mit Fotografien von Andrea Kähler, Dagmar Rubisch, Gabriele Senft, Ernest Kaltenegger, Benjamin Renter, Alexandre Sladkevich und Jens Schulze u.a. mit Fotografien von Denkmalen in Bulgarien, Russland, Ukraine, Lettland, Litauen, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Italien (Triest). Die Ausstellung ist zu sehen bis zum 9.11.2018.
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Republikflucht hält an
Weniger Menschen, dafür mehr Arme: Trübe Aussichten für den Osten 28 Jahre nach dem Beitritt zur BRD (Andere sagen: Annexion der DDR)
(Von Nico Popp, 2.10.2018, aus www.jungewelt.de/artikel/340898.armut-und-abwanderung-im-...)
Der »Tag der deutschen Einheit« steht an; und damit einmal mehr auch die besorgte und ziemlich verlogene Frage, ob das denn alles so geklappt hat und weiterhin klappt mit dem für alle Beteiligten vorteilhaften »Zusammenwachsen von Ost und West«. Offenbar nicht: In Westdeutschland, teilte das Statistische Bundesamt am Montag mit, lebten 2017 rund fünf Millionen Menschen mehr als 1990 (plus 8,2 Prozent). Dagegen ist die Einwohnerzahl in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) im gleichen Zeitraum um rund zwei auf 16,2 Millionen (minus elf Prozent) zurückgegangen. Sachsen-Anhalt wird einer Studie des Prognos-Instituts zufolge in den nächsten beiden Jahrzehnten noch einmal jeden fünften Einwohner verlieren, Mecklenburg-Vorpommern jeden siebten.
Der Grund für die seit Jahrzehnten anhaltende Abwanderung ist eigentlich kein Geheimnis: Es war im Osten (nach 1990) lange nicht einfach, überhaupt als Lohnarbeiter Verwendung zu finden. Und die, denen das gelang und weiter gelingt, müssen ihr Leben häufig am oder nahe am Niveau des Mindestlohns ausrichten. Wer hier lebt, ist im Durchschnitt ärmer als Menschen im Westen. Der Sozialverband VdK erklärte am Montag, die Armutsquote im Osten Deutschlands sei »vor allem deshalb so hoch, weil dort so viele Menschen nur prekär und im Niedriglohnsektor beschäftigt sind«. Viele Beschäftigte erhielten nur den gesetzlichen Mindestlohn. »Er verhindert Armut nicht«, sagte Verbandspräsidentin Verena Bentele. Der Mindestlohn müsse auf über zwölf Euro angehoben, Leiharbeit und Minijobs müssten zurückgedrängt werden.
Auf das gleiche Problem hat auch die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke am Montag hingewiesen. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Zimmermann, warf der Bundesregierung bei der Armutsbekämpfung »Totalversagen« vor. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der »Einheit« sei es nicht nachvollziehbar, dass es immer noch ein deutliches Einkommensgefälle zwischen West und Ost gebe, sagte sie gegenüber dpa.
Eigentlich ist es das schon, und ändern wird es sich nicht. Prognos nimmt an, dass der Osten wirtschaftlich und sozial langfristig weiter zurückfallen wird. »Bis 2045 nimmt das Gefälle nach unseren Prognosen wieder zu«, heißt es in der Studie, aus der die dpa vorab zitierte. Liege die Wirtschaftsleistung pro Kopf im Osten heute bei drei Vierteln des Westniveaus, sinke sie bis 2045 auf weniger als zwei Drittel und damit sogar noch unter den Wert aus dem Jahr 2000. »Bei einer Fortsetzung der bisherigen Politik werden sich die materiellen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West nicht angleichen«, schreiben die Autoren. Dafür machen sie allerdings nicht die spezielle Logik der kapitalistischen Produktionsweise in Ostdeutschland, sondern »Abwanderung und geringe Geburtenzahlen« verantwortlich – so elegant kann man Ursache und Wirkung verwechseln.
Joachim Ragnitz, Koautor einer gerade veröffentlichten Studie des Ifo-Instituts, stellte unterdessen sorgenvoll fest, dass im Osten »das Vertrauen« in die »demokratischen Institutionen« geringer ausgeprägt sei als im Westen. Kritische Linke sollte das eher ermuntern. Freunde jeder Form von »Einheit« sind ihnen prinzipiell verdächtig, Rufe nach »Zusammenhalt« in einer Klassengesellschaft verhasst, »Vertrauen« in den bürgerlichen Staat gedenken sie nicht zu fördern. Sie wollen wissen, wie die Klassengesellschaft und ihr politischer Überbau funktionieren – und was man dagegen tun kann. Im Osten und im Westen.
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»Schöne Worthülsen nutzen niemandem«
Vor »Tag der deutschen Einheit«: Ostdeutsches Netzwerk kritisiert weiter bestehende Ungerechtigkeiten. Gespräch mit Matthias Werner, Präsident des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden e. V.
(Interview: Jan Greve, aus www.jungewelt.de/artikel/340805.protest-gegen-einheitsfei...)
An diesem Mittwoch steht der sogenannte Tag der deutschen Einheit an. Sie laden zu einer Protestveranstaltung, einer »alternative Einheitsfeier«, ein.
(»Alternative Einheitsfeier« am 3.10., 10 Uhr, Bürgerhaus Neuenhagen bei Berlin, okv-ev.de) Überschrieben ist diese mit dem Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Wieso ist es Ihnen wichtig, das an diesem Tag hervorzuheben?
Seit dem Anschluss der DDR an die BRD wird die Würde der Menschen in Ostdeutschland in den Dreck gezogen. Umfragen ergeben, dass sie sich weiterhin als »Bürger zweiter Klasse« fühlen. Ihre Lebensleistung wird nicht anerkannt. Und nach wie vor hinken Löhne und Renten denen im Westen hinterher. All das ist letztlich nur ein Ausdruck dafür, dass Lebensjahre in der DDR als quasi »verlorene« Jahre hingestellt werden – als Zeit, die die Menschen in einem »falschen System« verbracht haben. Es ist notwendig, den Finger in die Wunde zu legen und auf die bestehenden Ungerechtigkeiten hinzuweisen.
Der hervorgehobene Satz ist bekanntlich im Grundgesetz zu finden. Es gibt also auch Dinge in der BRD, auf die Sie sich positiv beziehen?
Dem Artikel 1 des Grundgesetzes ist nicht zu widersprechen. Wir fordern die Bundesregierung auf, dementsprechend Politik zu machen. Sie tut aber das genaue Gegenteil: Die Spaltung zwischen Arm und Reich nimmt zu, ebenso wie die zwischen In- und Ausländern. Menschen werden durch die Hartz-Gesetze gedemütigt. Die Unantastbarkeit der Würde ist also in der praktischen Politik nicht umgesetzt. Wir fordern, den Sozialabbau zu stoppen und für eine Angleichung der Lebensverhältnisse zu sorgen. Schöne Worthülsen nutzen niemandem.
Am vergangenen Mittwoch, eine Woche vor dem 3. Oktober, hat die Bundesregierung ihren Jahresbericht zum »Stand der deutschen Einheit« vorgestellt. Dort wurde ein im Grundsatz positives Fazit gezogen: Es gebe Fortschritte bei der wirtschaftlichen Entwicklung, auch wenn man noch nicht am Ziel angelangt sei. Was sagen Sie dazu?
Nach wie vor fehlen im Osten qualitativ hochwertige Arbeitsplätze ebenso wie flächendeckend gute Bildungsangebote. Die gut ausgebildete Jugend wandert in die alten Bundesländer aus. Ich will das mit einem Bild verdeutlichen. Die sächsische Stadt Görlitz hat herrliche Bauten und wird durch Restaurierung und Instandsetzung immer schöner. Aber sie ist leer. Westdeutsche Senioren werden dorthin gekarrt, um sich Eigentumswohnungen anzuschaffen, damit dort wieder jemand lebt. Das zeigt den Widerspruch: Was nutzt mir das schönste Haus, wenn ich die Miete nicht bezahlen kann? Gravierende Probleme dieser Art führen zu Unzufriedenheit in der ostdeutschen Bevölkerung. Vorne eine schöne Fassade für Gutverdienende und Superreiche, aber dahinter sieht sich der Großteil der Bevölkerung – wir reden von Millionen Menschen – mit Sozialabbau oder einer Beschäftigung im Niedriglohnbereich konfrontiert.
Bei der Vorstellung des Jahresberichts hieß es, es gebe die Lohnunterschiede zwischen Ost und West, weil die Struktur der Wirtschaftsbetriebe eine andere sei. In den alten Bundesländern seien nun mal die großen Konzerne angesiedelt. Das Argument überzeugt Sie nicht?
Ganz bestimmt nicht. Zielgerichtet wurde die Industrie der DDR zerstört – und damit auch die Möglichkeit der Menschen, ihr Leben zu gestalten oder zu verbessern. Erst wurden vorhandene Wirtschaftsstrukturen zerschlagen, um dann Almosen zu verteilen und darauf hinzuweisen, man solle sich damit zufrieden geben. Gegen solch eine Form von Geschichtsklitterung versuchen wir uns zu stemmen.
Neben diesen dicken Brettern, die Sie bohren wollen: Was ließe sich konkret und schnell in die Wege leiten, um etwas an der Situation zu verbessern?
Einfach umzusetzen wäre die Angleichung der Ost- an die Westrenten. Es ist genug Geld in den Kassen, das könnte sofort angegangen werden. Wir haben in diesem Zusammenhang eine Verfassungsbeschwerde zu dem sogenannten Rentenüberleitungsabschlussgesetz eingereicht. Mit dieser Regelung, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht hat, würde alles beim alten bleiben. Dagegen klagen wir. Derzeit sammeln wir Spenden für die Kosten der Verfahren
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Tag der Einheit?: „Das Gebiet der DDR wird vom Westen wie eine Kolonie behandelt“
(Alexander Boos, aus de.sputniknews.com/gesellschaft/20181002322501245-ossis-w...)
Die Bundesrepublik hat bei der Wiedervereinigung viele Fehler gemacht. „Der größte Fehler war, all die guten Aspekte der DDR wie Frieden oder die Sicherheit des Arbeitsplatzes einfach hinwegzufegen“, erklärte der Ost-Berliner Jurist Hans Bauer im Sputnik-Interview. „Viele Ostdeutsche fühlen sich dadurch übergangen und beleidigt.“
„Wir werden auch an diesem dritten Oktober unsere ‚Alternative Einheitsfeier‘ abhalten“, sagte Hans Bauer, Berliner Rechtsanwalt und Vorsitzender der „Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung“ (GRH), im Sputnik-Interview. Die Gesellschaft gehört dem „Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden“ (OKV) an, einem Zusammenschluss von 25 ostdeutschen Organisationen, die die jährliche Protestveranstaltung ausrichten. „Dort bringen wir praktisch unsere Bilanz zu bestimmten Themen zum Ausdruck, die die Einheit und Ostdeutschland berühren.“ Darüber berichtete auch die Zeitung „Junge Welt“ in ihrer Montagsausgabe.
„Das ist unser alternativer Protest zu den glorifizierenden offiziellen Feiern, die jedes Jahr in einem der neuen Bundesländer stattfinden“, erklärte der Ost-Berliner Jurist. „Das ist ein Gegenstück dazu. Wir bringen dort zum Ausdruck, wie es tatsächlich aussieht, wie wir es empfinden und was sich im Osten ändern müsste, um die Verhältnisse zu verbessern.“
Wirtschaftliche Schieflage Ost
Der Sozialabbau im Westen sei nur deshalb möglich, weil die DDR nicht mehr existiere. „Aber das wird man von den Machthabern in Berlin nicht erwarten können, dass sie das zugeben.“ Um tatsächlich gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West herzustellen, „müsste man ökonomisch und sozial handeln“. So schnell wie möglich müssten die Löhne und die Renten angeglichen werden.
Das ehemalige Staatsgebiet der DDR werde vom Westen wie eine Kolonie behandelt. „Ich würde mir wünschen, dass dieses Kolonialgebaren verschwindet. Dass man dazu aber auch die dafür extra eingerichteten Institutionen verändert, reformiert oder auflöst.“ Er nannte die „Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU, „Stasi-Unterlagenbehörde“) als solch eine Institution.
„Auf Befindlichkeiten der Ostdeutschen eingehen“
Der gravierendste Fehler bei der Wiedervereinigung war, dass „all das Gute abgeschafft wurde, was die DDR ausmachte. Also Frieden, Sicherheit und Arbeitsplätze“. Da es zur Zeit der Wende nicht die Möglichkeit des „gegenseitigen Einbringens von Ideen“ gab, fühlen sich heute viele Menschen im Osten „beleidigt und übergangen. Auf die Befindlichkeit der Ostdeutschen müsste man viel stärker eingehen.“
Dazu gehöre ebenso die „gleichberechtigte Geschichtsbeurteilung. Nicht: Die Einen die Guten, die anderen die Bösen. Also diese Schwarz-Weiß-Malerei der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart hineinreicht, muss man überwinden.“ Auch die Auswahl der Gedenkorte sei falsch gewesen, weil damit die DDR „in die Nähe des faschistischen Regimes“ gestellt wird. Es gab eine lange antifaschistische Tradition in der DDR. Dagegen sei die bundesdeutsche Gedenkpolitik „eine Beleidigung“, weil die DDR-Bürger „antifaschistisch erzogen wurden. Alles das sind Dinge, die die Befindlichkeit der Menschen betreffen.“ Auch werde die Aufbauarbeit der Ostdeutschen neben weiteren kulturellen und sozialen Leistungen in der Regel „nicht anerkannt“.
(>>Andere Sputnik-Artikel: Wozu Wessis die Ossis brauchen – Westdeutsche Dominanz statt echter Einheit)
Problem des Rechtspopulismus im Osten
Die Folge dieser Vernachlässigung der Menschen durch die Bundespolitik: „Die Menschen im Osten fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Weil sie in diesem Staat, in der Bundesrepublik so behandelt werden.“ Das treibe viele in die Arme von rechtspopulistischen Parteien wie die AfD oder ähnlichen Gruppierungen, meinte Bauer auch mit Blick auf die jüngsten Vorkommnisse in der sächsischen Stadt Chemnitz.
„Irgendwo wollen sie ihren Frust loswerden. Ich glaube aber nicht, dass diese rechten Botschaften auch die Köpfe der Bürger erreichen.“ Sondern dieser Zulauf sei Ausdruck der ostdeutschen Unzufriedenheit. Das „antifaschistische Erbe“ der DDR bleibe weiterhin spürbar und in der Gesellschaft verankert, betonte Bauer.
Neuer Russland-Kurs nötig
Außerdem würde er sich einen pazifistischen Kurs in der bundesdeutschen Außenpolitik wünschen. „Was Kriege und diese ganze Militarisierung gegen Russland betrifft, muss das schleunigst aufhören“, forderte der Ost-Berliner Anwalt. „Diese Nähe, diese freundschaftliche Verbundenheit, diese Befreiung vom Faschismus durch Russland, die ist so tief eingegraben – auch bei nachfolgenden Generationen, so dass das eigentlich ein gutes Verhältnis ist. Ganz anders, als das heute von der Politik praktiziert wird. Da wurde direkt wieder eine Feindschaft entwickelt.“
Besonders bei diesem Punkt könne die aktuelle Bundesregierung einiges von der DDR lernen. Schließlich gilt die untergegangene Republik bis heute als historisch einziger Staat, der den Antifaschismus je zur Staatsdoktrin erhob.
Das Radio-Interview mit Hans Bauer (GRH) zum Nachhören:
soundcloud.com/sna-radio/ra-h-bauer-zum-tag-der-deutschen...
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„Die Restauration des Kapitalismus ist kein Grund zu feiern“ (Von Matthias Witte, aus de.sputniknews.com/gesellschaft/20181002322503880-westen-...)
An diesem Mittwoch wird der „Tag der deutschen Einheit“ gefeiert. Doch für den Armutsforscher Michael Klundt ist die „Wiedervereinigung“ kein Grund zu feiern. Schon der Begriff ist ihm zufolge ein Etikettenschwindel. Der Wissenschaftler aus Westdeutschland nennt den Prozess eine „Restauration des Kapitalismus“.
Der Politikwissenschaftler und Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Michael Klundt, stört sich aus mehreren Gründen an dem Begriff Einheit: „Rein juristisch gab es keine Einheit und keine Vereinigung nach Grundgesetz-Artikel 146, der eine neue Verfassung und eine Volksabstimmung vorgesehen hätte. Sondern es gab einen Beitritt. Oder, wie Wolfgang Schäuble 1991 sagte, es gab einen Anschluss. Ostdeutschland wurde vollständig vom westlichen System übernommen. Alle Spitzenpositionen in Wirtschaft, Militär, Justiz, Politik, hoher Ministerialbürokratie und in der Wissenschaft werden in westdeutsche Hand übergehen. Und die Treuhandanstalt besorgt noch einen gigantischen Privatisierungsprozess.“ Das sei das Problem, über das seit 28 Jahren nicht gesprochen werde.
Nach Wende: Ostdeutschland verlor zwei Millionen Einwohner
Am Einheitsbericht der Bundesregierung werde das deutlich. Klundt sagt, sicher gebe es im Osten Erfolgsgeschichten. Er nennt die Beispiele Jena und Leipzig. In diesen Städten sei der wirtschaftliche Aufschwung spürbar. Diese lokalen Erfolgsgeschichten täuschen den Armutsforscher jedoch nicht über die sozialen Unterschiede hinweg, die auch im Einheitsbericht erfasst werden: „Im Schnitt höhere Armutsquoten, höhere Arbeitslosigkeit, niedrigere Löhne, niedrigere Ausbildungsvergütungen, in der Regel mit der Arbeitslosigkeit verbunden niedrigere Renten, mehr Niedriglöhne, weniger Tarifbindung als im Westen beziehungsweise in den westlichen Flächenstaaten, und dann die Tatsache, dass nach 1990 keine einzige DAX-Firmenzentrale in den Osten gegangen ist. Das heißt, dass man im Prinzip strukturell verlängerte Werkbänke organisiert hat.“ In Summe führe das dazu, dass die Steuern weitestgehend im Westen entrichtet werden, weil die Konzernzentralen und die Forschungsabteilungen im Westen geblieben sind.
Innerdeutsche Migration nach der Wende
Ob es die Perspektivlosigkeit war oder die Hoffnung, im vermeintlich „goldenen Westen“ sein Glück zu finden, ist unklar. Fest steht: Nach der Wende fand eine gewaltige Abwanderung von Ost nach West statt. „Ich habe gelesen, dass nur in Leipzig über Nacht 100.000 Menschen ihre Arbeit verloren haben. Innerhalb kürzester Zeit verließen 700.000 Menschen Sachsen. Das ist innerdeutsche Migration. Eine solche Abwanderung muss eine Region erst einmal verkraften.“
Dann sei etwas geschehen, was der ostdeutsche Autor Olaf Georg Klein als „strukturelle Gewalt des Westens“ bezeichnete. In Zeitungsredaktionen, Verlagen und an Universitäten werden Ostdeutsche mehr und mehr zurückgedrängt und durch Westdeutsche ersetzt. Das führte zu einer Entfremdung zwischen den Eliten und der Bevölkerung.
Die Bevorzugung Westdeutscher in Führungspositionen kritisiert Klundt schon lange. Das Phänomen beobachtet er auch an den Hochschulen. Eine Erklärung dafür hat er nicht, erinnert sich aber an den Forscher Steffen Mau, der gegenüber der „Zeit“ sagte: „Wären die Ostdeutschen als solche erkennbar, hätten sie eine andere Haarfarbe oder lange Ohren, wäre eine solche Schieflage schon längst zum Politikum geworden, Rufe nach Quoten inklusive.“ Es sei einfach so auffällig, dass die Führungsebenen in Ostdeutschland, in Gesamtdeutschland sowieso, nur von Westdeutschen gestellt werden.
Frust-Ossi wählt AfD? Klundt: „Das ist zu einfach“
Das führt zur sozialen Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland, zu Frustration. Diese reicht Klundt aber nicht als Begründung, warum viele Ostdeutsche AfD wählen: „Aus meiner Sicht ist das nicht so einfach. Der Aufstieg der AfD hat auch mit dem Aufstieg von rechten, rassistischen Ideologien in der Mitte, Standortnationalismus, den Thesen von Sarrazin, die im Diskurs der Mitte etabliert wurden, zu tun. Das Reden über gierige und faule Griechen in der Wirtschaftskrise, die Verachtung gegenüber ärmeren Ländern, und das auch im vorherrschenden Mediendiskurs, nicht etwa nur bei Rechtsextremen – all das hat zu einem, man könnte schon sagen, Zivilisationsbruch in Deutschland geführt.“ Auch Hartz IV spiele eine Rolle.
Außerdem gebe es auch in Westdeutschland eine breite Unterstützung der AfD – eine wohlstandschauvinistische Basis von Menschen ohne größere soziale Probleme. Klundt geht noch explizit auf Sachsen ein, wo sich in den letzten 28 Jahren neonazistische Strukturen unter einer CDU-Regierung, die das sehenden Auges toleriert habe, sehr wohl fühlen und gut organisieren konnten. „Von der Sozialarbeit bis zur Schule, von der Politik bis zum Sportverein – die Regierungen haben weggeschaut. Jetzt ist da eine ganz neue Generation herangewachsen, die seit ihrer Kindheit nur neonazistische Propaganda kennt.“
Deutsche Einheit möglich – wenn …
Michael Klundt möchte deshalb nicht gerade die Sektkorken für den 3. Oktober knallen lassen. „Diese Restauration des Kapitalismus ist aus meiner Sicht kein Grund zu feiern.“
Bleibt die Frage, wie die Deutschen trotz sozialer Unterschiede, Frustration und bei aller Diskrepanz letztlich doch als Einheit zusammenfinden. Zu einer Einheit, die diesen Namen verdient. Laut Klundt müsste sich ökonomisch einiges tun. Konzerne müssten sich fragen, was sie bisher in Ostdeutschland getan hätten. Die westdeutschen Eliten müssten sich fragen, was sie in den letzten 28 Jahren gegen Rechtsextremismus und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unternommen haben. Der Armutsforscher richtet aber vor allem einen Appell an die Betroffenen selbst:
„Zuletzt geht es darum, dass die Menschen sich selbst organisieren. Sie müssen tatsächlich selbst ihr Leben in die Hand nehmen. Das Verführerische, was jetzt durch rassistische Angebote vorliegt, ist eine kurzzeitige Handlungsfähigkeit, die hergestellt werden kann. Man kann durch Rechtswählen oder rechtsextrem Demonstrieren sich und seine Unzufriedenheit spüren.
Aber die Frage ist natürlich: Gibt es nicht auch andere Möglichkeiten, mit anderen gemeinsam solidarisch etwas zu verändern und zu verbessern? Und das gibt es auch in Ostdeutschland. Da gibt es auch in Ostdeutschland viele Menschen, die das tun. Vielleicht wäre es da einfach wichtiger, diese Menschen zu unterstützen. Menschen, die nicht neonazistisch sind, die in Regionen Sachsens leben, die sich als national befreite Zonen betrachten. Das sind Menschen, die trotzdem als Demokraten dort weiterleben wollen, aber permanent von Neonazis mit dem Leben bedroht werden.“
Es ist ein langer Weg. Vorerst wird Michael Klundt am 3. Oktober nicht auf den „Tag der Deutschen Einheit“ anstoßen.
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