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"Mutter mit Kind", Berlin-Buch, DDR, 1980, Künstler: Gerhard Rommel

Die Annexion und Kolonialisierung der DDR: Auf den kalten Krieg folgte ein kalter Bürgerkrieg zwischen einer schmalen Gewinnerschicht und einer sehr breiten Verliererschicht, ergänzt durch Pogrome und staatliche Hetzkampagnen gegen Minderheiten wie Flüchtlinge, Bedürftige und dauerhaft "Entlassene", gegen andere Religionen, "linke" Demonstranten u.a. Alles bis heute andauernd.

(von Wolfgang Jantzen, aus www.basaglia.de/Artikel/DDR-Kolonisierung.pdf)

 

Allein die Anwendung des Begriffs „Kolonisierung“ stößt in der ehemaligen BRD auf Widerstand. Da dieses Argument mit Sicherheit in der Auseinandersetzung mit meinen Überlegungen auftauchen wird, sei zunächst an die Feststellung ROHWEDDERs erinnert, dass viele westliche Unternehmer beim Überschreiten der „Zonengrenze“ (!) jeden Anstand aufgeben und sich „wie Kolonialoffiziere“ bewegen (zit. nach M. Schneider 1990, S. 173 f.).

Da es neben der Feststellung objektiver Befunde beim „Kolonisierungs-Paradigma“ erst einmal um subjektive Wahrnehmungen und Empfindungen geht, hierzu einige Daten. Wichtigste Quelle sind die beiden EMNID-Untersuchungen im Auftrag des SPIEGELs, die den psychischen Zustand der ehemaligen DDR-BürgerInnen wie folgt wiedergeben.

Die Umfrage von 1990 ergibt folgende Ergebnisse:

35% der OstbürgerInnen äußern sich über sich selbst als eher selbstbewußt; 92% äußern sich entsprechend über die „Wessis“. An erster Stelle im Hetereostereotyp West rangieren Urteile wie:

selbstbewusster, selbständiger, entschlusskräftiger, weltoffener, flexibler.

Mitte 1991 zeigt sich eine deutliche Verschiebung der Werte. Die Sympathien für die „Wessis“ sanken im Vergleich zu anderen Völkern (Franzosen + 2,0, USA + 1,9, Österreicher +1,7, Russen + 1,2) von +2,7 auf +1,7. Dass sich „Ossis“ und „Wessis“ seit der Vereinigung näher gekommen sind, bejahten 45% im Osten und 51% im Westen; dass sie sich fremder geworden sind, bejahten 50% im Osten und 36% im Westen. „Viele Ergebnisse waren so konträr, als würden nicht Teile

eines Volkes sondern verschiedene Völker befragt werden“ (SPIEGEL 1991, 30, S. 25). Und die Tendenz ging zur Verschärfung dieser Unterschiede. In der Tendenz der negativsten Eindrücke überwiegt im Osten (ca. die Hälfte von 675 aus 1000 Interviewten, die diese Frage beantwortet haben) die Überheblichkeit des Westens: „Arrogant wie

Besatzer“ (HStW). Im Westen (670 von 1000 Interviewten antworten auf die Frage) überwiegt als Urteil über die „Ossis“ „faul“ (91 Befragte) bzw. dass sie zuwenig aus eigener Kraft tun und zu sehr auf die Hilfe des Westens bauen (144 Befragte)(HStO). Im Heterostereotyp Ost werden die „Ossis“ überall schlechter bewertet als sie sich selbst bewerten

(AStO). Bei einem neutralen Wert von 4 auf der verwendeten Skala rangierten im Heterostereotyp Ost mit Werten über 4,5 folgende Klassifizierungen an erster Stelle des Negativurteils:

unselbständig, provinziell, starr, entscheidungsfaul, unsicher.

Im Vergleich des Autostereotyps Ost zum Heterostereotyp Ost ergaben sich folgende Differenzen:

Faul -1,9 („Wessis“ halten „Ossis“ um 1,9 Skalenwerte für fauler, als diese sich selbst einschätzen),

oberflächlich -1,4, ideenarm -1,4, unzuverlässig -1,4, unselbständig -1,3, starr -1,2, überheblich -1,2, kinderfeindlich -1,1, entscheidungsfaul -1,1.

Beim Vergleich der Werte von 1990 und 1991 ergibt sich folgendes Bild für den Wandel des Autostereotyps Ost in diesem Zeitraum (Werte für 1990 graphisch aus den Abbildungen entnommen, da keine Zahlenwerte angegeben):

- Wandel des Autostereotyps Ost von Ende 1990 bis Mitte 1991:

ideenreich +0,8, zuverlässig +0,5, fleißig +0,4, entschlusskräftig +0,4 (die Werte drücken Verschiebungen auf den Skalen in Richtung der numerisch kleineren Werte, also des positiven Pols aus). Die BürgerInnen der ehemaligen DDR sind also insgesamt selbstbewusster geworden. Besonders deutlich wird dies, vergleicht man ihre Werte in diesen vier Dimensionen mit ihrer Fremdeinschätzung der WestbürgerInnen 1990 (HStW):

- Differenzen zwischen Autostereotyp Ost 1991 und Heterostereotyp West 1990:

ideenreich -0,9 (1990), -0,1 (1991); zuverlässig -0,6 bzw. 0,0 (Skalenwert 2,5), fleißig -0,5 bzw. -0,1, entschlusskräftig -1,3 bzw. -0,9.

BürgerInnen der ehemaligen DDR sehen sich unterdessen in wichtigen Dimensionen nahezu genauso positiv, wie sie Ende 1990 BürgerInnen der ehemaligen BRD gesehen haben.

- Völlig anders sehen die Differenzen zwischen dem Autostereotyp Ost und dem Heterostereotyp Ost 1991 aus:

ideenreich -1,4 (Differenz zuungunsten der Ost-BürgerInnen), zuverlässig -1,4, fleißig -1,9, entschlusskräftig - 1,1.

Die Gleichheit der Lebensverhältnisse von Ost und West herzustellen, ist 1991 für 72% der Ostaber nur 41% der WestbürgerInnen besonders wichtig. „Ossis“ seien noch lange BürgerInnen zweiter Klasse glauben 1990 im Osten 75% (das Gegenteil denken 15%), 1991 sind es im Osten 84% (9%)

und im Westen 35% (45%)

Ergänzen wir dies durch die Daten zur subjektiven Lage sowie zur Frage, ob etwas und was erhaltenswert an der DDR war, so verstärkt sich das Bild des zunehmend auseinander fallenden und durch wechselseitige kolonialistische Wahrnehmung („Besatzer“ aus dem Westen vs. „faule

Ossis“) geprägten Bewusstseins. Forschungen des Instituts für Meinungsforschung in Allensbach geben für Oktober 1990 folgende Indikatoren psychischer Belastung wieder (Köcher 1991):

Schwindelgefühle: BRD 12%, DDR 34%; Nervosität BRD 21 %, DDR 38%; Schlafstörungen: BRD 24%, DDR 39%.

Die von EMNID erhobenen Befunde Mitte 1991 (SPIEGEL 32, 1991) bewegen sich in ähnlicher Größenordnung:

- Angst vor der Zukunft: Männer: Westen 23%, Osten 37%; Frauen: W 25%, 0 44%; Gesamt: W 24%, 0 37%.

- Niedergeschlagen und mutlos: Männer: W 18%, 0 32%; Frauen W 32% 0 44%,; Gesamt: W: 20%, 0 38%

- Ratlos, verstehe die Welt nicht mehr: Männer: W 20%, 0 22%; Frauen: W 21 %, 0 34 %.

Übers Ohr gehauen fühlen sich 52% der Ost-BürgerInnen. Bei Ausdifferenzierung nach wirtschaftlicher Lage sind es in guter Lage 41%, in mittlerer 54% und in schlechter 66%.

Entsprechend spezifisch verteilen sich die Werte bei „Angst vor der Zukunft“ bei Menschen, denen es schlecht geht (63% haben Angst) und denen es gut geht (16%).

Während 1990 lediglich 23% zustimmten, einen Schlussstrich zu ziehen, statt weiterhin die Schuld zu klären, sind es 1991 38%.

Besonders deutlich drückt sich das Gefühl des Betrogenseins bei den Jugendlichen aus, obgleich die Politikverdrossenheit der Jugend in Ost und West gleich hoch zu sein scheint. Über 80% sind jeweils der Meinung, dass die Bevölkerung von den Politikern betrogen wird (Angaben aus der SHELL-Studie 1991, zit. nach Neues Deutschland vom 8.11.91, S. 2). Insbesondere bei DDRJugendlichen zeigen sich polarisierte Milieus. So zeigt die Jugendstudie in Sachsen des ZIJ (N = 2800) nach der Wende einen krassen Umschwung im Sinne von Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus. 15 - 20% der Befragten weisen ein „geschlossenes autoritär-nationalistisches Einstellungsyndrom auf“. „Weit verbreitet fanden die Forscher das Gefühl, vom alten System

betrogen worden zu sein“ (Rahn 1991, S. 4). Andererseits gibt die SHELL-Studie an, dass ca. 60% der jungen Leute die DDR nicht in negativer Erinnerung haben (ND a.a.0.).

Die Werte für die Frage, was und ob etwas erhaltenswert an der ehemaligen DDR sei, haben sich nach den mir vorliegenden Daten wie folgt entwickelt:

- Anfang Juni 1990 (Ost-“Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien“) stimmen 78% der

DDR-BürgerInnen der Feststellung zu „In 40 Jahren ist so manches entstanden, das ich gut finde und das im künftigen Gesamtdeutschland erhalten bleiben sollte“ (Nein 16%) (zit. nach M. Schneider 1990, S. 163).

- Nach der Wahl am 2. Dezember 1990 (EMMAG am Inst. f. Soziologie und Sozialpolitik, Berlin im Auftrag der ZUMA, Mannheim) sind 70% stolz auf etwa, wenn sie auf die DDR zurückblicken. Als Gefahr wird die Bildung eines Mythos „sozialstaatliche Idylle DDR“ hervorgehoben (ND v.

13.2.91, S. 1).

- Die beiden EMNID Untersuchungen von 1990 und 1991 (SPIEGEL, a.a.0.) zeigen folgendes Bild:

1990 schneidet die DDR nur in drei Punkten besser ab (soziale Sicherheit, Gleichberechtigung der Frau, Schutz gegen Verbrechen), 1991 in fünf von acht Punkten (neben den bereits genannten Berufsausbildung und Schulbildung). Schlechter schneidet sie 1991 ab bezogen auf

Lebensstandard, Gesundheitswesen, Wohnungsbau.

Alle Daten sprechen für eine Polarisierung der psychischen Situation zwischen West und Ost mit wechselseitigen Zuschreibungen (HStW und HStO) bei gleichzeitiger zunehmender Stabilisierung der jeweiligen Autostereotype. Unter Berücksichtigung der Inhalte scheint in der Tat damit eine psychische Situation gegeben zu sein, die sich am besten mit dem Kolonisierungsparadigma beschreiben lässt.

Nun ist es im Rahmen meiner Studie gänzlich unmöglich, auch die ökonomische Berechtigung dieses Paradigmas zu untersuchen. Immerhin gibt es viele ernsthafte Stimmen (vgl. z.B. Roth 1990, van der Meer und Kruss 1991), die eine ökonomische Entwicklung in Dimensionen konstatieren,

die SARTRE (1988) in seiner Arbeit „Kolonialismus als System“ (als Vortrag 1956) bezogen auf den französischen Kolonialismus in Algerien wie folgt benannt hat:

„Zuerst die Widerstände brechen, die Kader zerschlagen, unterwerfen, terrorisieren. Erst dann wird das Wirtschaftsystem etabliert. Und worum geht es? Industrien in den unterworfenen Ländern zu schaffen? Keineswegs: ... das Kapital wird in Frankreich bleiben, es wird einfach in neue Industrien investiert, die ihre Fertigwaren dem kolonisierten Land verkaufen werden“ (S. 17 f). Bereits hier zeigt es sich allerdings, dass das in der Auseinandersetzung mit Frankreichs Algerienpolitik entwickelte Kolonisierungs-Paradigma nicht pauschal anzuwenden ist, da die ehemalige DDR gleichzeitig erweitertes Aufmarschgebiet für eine neue Ostpolitik ist. (Der in Aussicht stehende Mercedes-Stern über dem Potsdamer Platz führ dies ebenso vor Augen wie die

Äußerungen Edzard Reuters in diesen Tagen, dass in der DDR das modernste Industriegebiet der Welt entstehen werde). Aber selbst, wenn dies eintritt (was von verschiedenen Autoren durchaus angezweifelt wird), gilt, dass es eine schmale Gewinner und eine sehr breite Verliererschicht gibt

und geben wird. Gleichzeitig nämlich findet ein drastischer Wandel der Arbeits- und Lebenssituation zum Negativen hin statt, der sich u.a. an der Politik der Treuhand ebenso zeigt wie an der Entwicklung der Arbeitslosenquoten.

Immerhin waren die Staatsschulden der DDR-Betriebe ja durch ein generell anderes volkswirtschaftliches Wertabschöpfungsverfahren entstanden: Die Gewinne wurden an den Staat abgeführt, die weitere Produktion wurde durch Staatskredite finanziert. Durch Gleichsetzung dieser

Kredite mit westdeutschen Krediten wurden aus den Staatskrediten „Altschulden“. Dies hatte den „Effekt, dass selbst bisher rentabel wirtschaftende Unternehmen nicht solvent sind“ (Behrend 1991 a, S. 23). Indem gleichzeitig große Anteile staatlichen Eigentums enteignet werden, kann sich der Westen in beispielloser Weise einkaufen. Diesen Unterschied hat M. SCHNEIDER vor Augen, wenn er festhält: „Er marschiert nicht mehr ein, sondern er kauft sich ein. Er tritt nicht als Kolonialherr, sondern als Entwicklungshelfer, als großzügiger Sponsor und Kreditgeber auf, wobei er „nur“ die Bedingungen seiner Hilfe diktiert“ (1990 S. 260). Die Bedingungen in rechtlicher Hinsicht entsprechen dieser Charakterisierung (vgl auch. F. WOLFF „So wird Recht und Freiheit nicht geschaffen“ ND 2.10.91, S. 11).

Bei der Arbeitslosigkeit liegt die nominelle Quote im August 1991 bei einer Million (12%), die reale Quote ist weitaus höher (zuzüglich 1,3 Millionen KurzarbeiterInnen, viele davon mit null

Arbeitszeit, 550.000 BezieherInnen von Altersübergangs- und Vorruhestandsgeld, 260.000 in ABM-Stellen, ein Teil der ArbeitspendlerInnen nach dem Westen und viele vom Arbeitsmarkt verdrängte, aber nicht als erwerbslos gemeldete Frauen. BEHREND (ebd.) schätzt die Gesamtzahl

auf 4 Millionen. Für 1991 wird ein Rückgang der Arbeitsangebote gegenüber den 9,6 Millionen

Arbeitsplätze in der DDR im Jahre 1989 auf nunmehr 5 Millionen prognostiziert (1991, S. 23). In diesem Kontext findet eine „plumpe Propaganda“, die Ost- und Westdeutsche wechselseitig für die Misere verantwortlich macht, viele Ansatzpunkte für die Bilder der „Ossis“ als „faulen

Nutznießern“ und der „Wessis“ als „hartherzig und nicht zu Opfern für die deutsche Einheit bereit“ ihren Platz. Den „Ossis“ wird empfohlen, die „Ärmel hochzukrempeln“ und zu „arbeiten“, „als hätten sie 41 Jahre nichts getan und als würden durch ihr Ärmelaufkrempeln Arbeitspätze

geschaffen“ (Behrend, ebd.).

Eine der wichtigsten Arbeiten zur Kolonisierung ist Albert MEMMIs Buch „Der Kolonisator und der Kolonisierte“ (1980; erstmals 1966). Zur Anwendung des Kolonisierungs-Paradigmas auf andere Situationen als die zwischen Algerien und Frankreich hält er im Nachwort fest, dass die

Unterdrückung zwar beliebig viele Gesichter annehmen, aber nicht beliebig viele Wege einschlagen kann: „Neben den Besonderheiten gibt es überall gemeinsame Mechanismen“ (S. 140). Für MEMMI ist die beste Definition, die es für Kolonie gibt, die folgende: „Man verdient dort mehr und gibt weniger aus“ (S. 24). Ich kann es mir sparen an dieser Stelle die vielfältigen Belege zur Situation der ehemaligen DDR anzuführen. Ganze Passagen bei MEMMI lesen sich wie eine

Beschreibung dieses Prozesses. „Dem frischgebackenen Universitätsabsolventen hat man eine Stelle angeboten, dem Beamten die Einstufung in eine höhere Besoldungsgruppe, dem Geschäftsmann beträchtliche Steuererleichterung und dem Industriellen Rohstoffe und Arbeitskräfte zu ungewöhnlich niedrigen Löhnen“ (ebd.). Die Entdeckung des Kolonisators in dieser Situation ist dreifach:

- Er entdeckt erstens die Möglichkeit des besseren Profits;

- er entdeckt zweitens „die Existenz des Kolonisierten und damit sein eigenes Privileg“ (S. 26);

- und drittens hat er als Fremder „nicht nur erfolgreich einen Platz für sich erobert, sondern ebenso erfolgreich den des Einwohners übernommen“ (S. 27; Memmi spricht hier von „Usurpation“). Neben den Privilegien der „großen“ Kolonisatoren sind auch die für die „kleineren“ recht

bedeutsam. Bei näherem Hinsehen entdeckt man allerdings „hinter dem Gepränge oder dem einfältigen Stolz des kleinen „Kolonisators“ lediglich Personen von geringem Format. Politiker mit dem Auftrag, die Geschichte zu gestalten, beinahe ohne alle historischen Kenntnisse, stets von

Ereignissen überrascht und weder willens noch in der Lage, in langfristigen Perspektiven zu denken. Spezialisten, die für die technische Entwicklung eines Landes verantwortlich sind,

entpuppen sich als Techniker außer Konkurrenz, vor der sie nach Kräften geschont werden. Was die Verwaltungsbeamten angeht, so hätte die Schlampigkeit und Armseligkeit der

Kolonialverwaltung ein eigenes Kapitel verdient“ (1980 S.57). Hinzu kommt die Abwanderung der Fähigen in das Land der Kolonialherren, so dass gerade die Mittelmäßigen zurückbleiben. Man kann nicht alles pauschal übertragen, im Kern lässt sich jedoch jede dieser Aussagen mit

vielfältigem Material belegen. Was den Wissenschaftsbereich betrifft, aber sicherlich nicht nur dort, kann man wohl zu recht

davon sprechen, dass die sog. „alten Seilschaften“ durch „neue Flaschenzüge“ ersetzt werden.

Die Usurpation, von der MEMMI spricht, musste allerdings vor allem auch aus ideologischen Gründen stattfinden. Hierzu SARTRE: „Diese Zerschlagung der Kader wurde systematisch

gefördert; in erster Linie, weil sie die Widerstandskräfte beseitigte und die Kollektivkräfte durch einen Flugsand von Individuen ersetzte“ (1988, S. 20). Für diesen Prozeß steht in der ehemaligen DDR insbesondere die Abwicklung. Bei dieser „Vernichtung geistigen Potentials der früheren

DDR“ (van der Meer und Kruss 1991) wurden bis zum Abschluss des Buches dieser Autoren bereits 50% der einst 110.000 DDR-Wissenschaftler entlassen. Ich zitiere aus der Besprechung durch BEHREND (1991 b, S. 52) eine Aussage der Hamburger ZEIT vom 14.12.1990:

„Evaluierungsgruppen, zusammengesetzt aus Wissenschaftlern und Bürokraten des Bonner Bildungs- und Wissenschaftsministeriums, unterwegs in den Akademie-Instituten. Und dabei hinterlassen sie vielerorts eine Schreckensspur wie weiland die Abgesandten der Heiligen

Inquisition auf der Hexenjagd“. Die Folge sind Panikreaktionen, also harter Konkurrenzkampf der

Betroffenen untereinander, vielfältige Denunziationen, Resignation und die Wiederbelebung von Untertanengeist.

Man darf nicht vergessen, dass die Hetzjagd jenen gilt, die lange für eine Alternative zum kapitalistischen System standen. Sie sind zutiefst verhasst, weil sie die eigene Verdrängung der deutschen Untaten des Zweiten Weltkrieges und der Nazivergangenheit insgesamt (siehe die Karrieren ehemaliger Nazis in der BRD) allein durch ihre Existenz und die damit immerhin denkbare Perspektive eines „besseren Deutschlands“ unmöglich gemacht haben. Hinzu kommt,

dass mit ihrer Verfolgung endlich das Syndrom von 1968 beseitigt werden soll, wo die heranwachsende Generation der BRD begonnen hatte, ihre eigenen Eltern nach der Beteiligung am Nazi-System zu fragen, und ihr dabei ein Hass ohnegleichen entgegenschlug. Diese Auseinandersetzungen dauern bis in die Gegenwart (ich erinnere exemplarisch an die

Auseinandersetzungen, ob der 40. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus am 8. Mai 1945 ein Tag der „Niederlage“ oder der „Befreiung“ sei). Zumindest zeigt es sich, dass bei der gegenwärtigen Hexenjagd „politisch angepasste Gemüter“ in der Regel geschont werden, „jene, die

schon zu Honeckers Zeiten wider den Stachel löckten, liebend gerne gefeuert“ (Behrend 1991 b, S.52).

Die Zerschlagung der Widerstandskräfte zeigt sich in vielen Dimensionen. Sei es der Umgang mit Kunst und Kultur, in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den unbequemen Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, der, vor Prüfung aller Stasi-Vorwürfe, fristlos vom Senator

Ehrhardt als Professor entlassen wurde, oder sei es in der Auseinandersetzung um Käthe Woltemath, Mitglied des SPD-Ehrenpräsidiums, die, obwohl in vielfältiger Hinsicht (einschließlich zweijähriger Haft) Opfer des DDR-Systems, als Stasi-Informantin von Presse und Fernsehen vorverurteilt wurde, wiederum ohne Prüfung der Sachverhalte. Oder sei es im Umgang mit der PDS: Wenn das Altvermögen der PDS unrechtmäßig ist, wie kann ein Gericht (zu Recht) diese

auffordern, die Renten für die PDS-Rentner zu zahlen. „Widersinnig wäre es nun, aus ihren Migliedsbeiträgen einen Rentenanspruch der Altfunktionäre herzuleiten (woraus sonst), die Beitragszahlung aber für illegal zu erklären“ (M. Jäger im FREITAG vom 29.11. 1991, S.2). Bezogen auf alle jene, die in einer Mischung von Unschuldslamm und Racheengel diese

Usurpation in Form der Zerschlagung der ideologischen Kader vollziehen, kann man sich nur der von Wolf BIERMANN ausgedrückten Verachtung anschließen: „Viele Westler hätten im Osten ohne Hemmung genauso Karriere gemacht, egal ob als dogmatischer Parteisekretär oder MfSOffizier,

als blauäugiger Denunziant, brutaler Volkspolizist, als Marxismus-Leninismus-Professor oder als schrifstellernder Wanderer auf Walter Ulbrichts Bitterfelder Weg. Die hätten sich, egal als Obrigkeit oder Untertan, in der DDR furchtbar bewährt. Dass diese Sorte Mensch im Westen sich jetzt wie ein Sieger der Geschichte rekelt, dass dieses Pack historisch Urteile rausrülpst und sich bläht wie der Kanzler, das kotzt mich an und macht mich kalt“ (1990, S. 62).

Es wird aus den bisher entwickelten Überlegungen klar, dass Kern der Usurpation in ideologischer Hinsicht der Rassismus ist. Er ist für MEMMI „Quintessenz und das Symbol des grundlegenden Verhältnisses, das den Kolonialisten mit dem Kolonisierten verbindet“ (1980 S. 12). Diese rassistische Einstellung enthält drei Elemente:

- Das Aufdecken und Hervorheben der Unterschiede zwischen Kolonisator und Kolonisiertem;

- die Steigerung dieser Unterschiede zugunsten des Kolonisators auf Kosten der Kolonisierten;

- die Absolutsetzung dieser Unterschiede, indem man sie als endgültig ausgibt und das eigene Handeln darauf ausrichtet, dass sie es auch werden (1980 S. 73).

Ich verweise darauf, dass der Rassismus insbesondere mit dem oben erörterten Bindungsmodus der affektiv-regressiven Bindung (Goffman, Neumann) ins Denken der Kolonie hineingetragen wird. Dieser Prozeß erhellt auch die aus den Ketzerverfolgungen des Mittelalters bekannte Tatsache, dass

die skrupellosesten und fanatischsten Inquisitoren selbst ehemalige Ketzer waren. „Indem sie fanatisch das bekämpften, woran sie selbst früher einmal geglaubt haben, beweisen sie den siegreichen Herren nicht nur ihre Ergebenheit, sondern suchen sich auch von dem Verratsvorwurf zu entlasten, der sie wie ein Schatten begleitet“ (M. Schneider 1990, S. 15). Diese Stelle des

„Nichtseins“, also die durch Angst markierte Stelle der eigenen Existenz zu schließen, gelingt allerdings nur, so DREWERMANN (1988, S. 586) indem man „sich selbst zum Monstrum“ macht.

Zurück zum Blick des Kolonisators, in dessen Mittelpunkt die „Seele“ des Kolonisierten tritt. „Diese Seele oder diese gemeinsame Kultur oder diese Psyche ist schuld an Institutionen, die aus einem anderen Jahrhundert stammen, an der fehlenden technischen Entwicklung, an der

unvermeidbaren politischen Unterdrückung, letztlich an dem Drama insgesamt“ (Memmi 1980, S.75). - Es ist merkwürdig, wie sich dieser Rassismus von außen mit dem psychologisierenden Blick von MAAZ aus der Binnenperspektive der DDR trifft. Und so verwundert es auch nicht, dass in dem Gutachten eines Prof. NIERMANN für den Ausschuss für Frauen und Jugend des Deutschen

Bundestages sich beide Perspektiven unentwirrbar vereinen. Unter dem Titel „Idenditätsfindung in den neuen Bundesländern“ verbirgt sich nichts anderes als mit eine mit umfassenden Vorurteilen angereicherte Version des „Mangelsyndrom“-Katalogs von MAAZ. Einer empirischen Kritik beugt NIERMANN gleich vor, insofern in der DDR Wirklichkeit niemals das gewesen sei, was wirklich war, „sondern das was wirklich sein sollte“ ... „Deshalb können Forschungsarbeiten und -berichte von Forschungsinstituten und Forschern (die auch jetzt noch in den 5 neuen Bundesländern arbeiten) politisch respektabel sein, wissenschaftlich sind sie als Aussage über die Wirklichkeit

noch nicht einmal das Papier wert.“ Entsprechend verzerrt taucht die Wirklichkeit in Kindergärten, Schule und Familie auf. So heißt es z.B. „Erzogen wurde in der Familie, wenn überhaupt, fast nur autoritär ... Spontaneität und Emotionalität waren den Eltern völlig fremd ... Auf die Bedürfnisse

des Kindes einzugehen, war generell verpönt“ (zitiert nach Dokumentation im ND v. 16./17.11.1991, S. 5).

Die Daten des ZIJ (Zentralinstitut für Jugendforschung), die STARKE anläßlich ähnlicher Behauptungen von Jürgen ENGERT im ARD publizierte (ND 6.u.7. 7. 1991, S.10) geben ein völlig anderes Bild. Von den 16 und 17 jährigen bezeichnen 1990 82% den Vater und 97% die Mutter als „liebevoll“ (13% bzw. 3% als „kaum“ und 5% bzw. 0% als „gar nicht liebevoll“). Offen über Sexualität reden können mit der Mutter 68% (Vater 40%); „lässt mir alle Freiheiten die ich brauche: Mutter 65%, Vater 67%; und „steht, wenn es darauf ankommt, hinter mir“: 89% Mutter, 87% Vater. Geschlagen wurden 16 - 18-jährige in ihrer Familie zu 2% „oft“, zu 13% „hin und wieder“ (34% „selten“, 53% „nie“). In der Generation der 30 - 44-jährigen waren es gegenüber den 13% bei den 16 - 18-jährigen die „oft“ oder „hin und wieder“ geschlagen wurden (beide

Geschlechter) 17% bei den Mädchen und 24% bei den Jungen. STARKE hält fest, und dies entspricht völlig meinen persönlichen Eindrücken: „Vor allem in den letzten Jahren entstand in vielen Familien ein demokratisches Gegenpotential, verbunden mit Problembewusstsein und

emotionaler Nähe der Familienmitglieder. Das „Es muss sich etwas ändern“ hatte seinen Boden auch in der Familie und der damit verbundene Einfluss auf die Heranwachsenden ist keineswegs gering zu schätzen“ (ebd.). Einen ähnlichen Eindruck geben auch die Daten von ROCKOW und

WESTPHALEN aus einer kleinen Vergleichstudie von Rostocker und Kieler Studenten (N = 36 bzw. 42). Die meisten DDR-Eltern haben zu „allgemeinen menschlichen Tugenden“ erzogen, „die aber wegen der widrigen Umstände schwer zu verwirklichen waren ...“ (1991, S. 545 f.).

Zurück zu MEMMIs Analyse. Jedenfalls sieht sich der Kolonisator als Träger der Werte der Zivilisation und der Geschichte sowie als Wohltäter (Paternalismus); der Kolonisierte hat dankbar zu sein, ohne Rechte in Anspruch nehmen zu können (Memmi a.a.0.). Was der Kolonisierte

wirklich ist, kümmert den Kolonisator nicht (ebd. S. 84); zu dem „mythischen Bild des Kolonisierten gehört darum seine unglaubliche Faulheit, zu dem des Kolonisators der tugendhafte Sinn für tätiges Schaffen“ (ebd. S. 81).

Die Konstruktion des „objektiven Gegners“ (Hannah Ahrendt) und die Bestimmung eines Kerns des Bösen sind daher wesentlicher Bestandteil des Kolonialismus als einer spezifischen Form totalitärer Herrschaft, so muss festgehalten werden. Hören wir Frantz FANON aus der als Manifest

der 3. Welt geltenden Schrift „Die Verdammten dieser Erde“:

„Wie um den totalitären Charakter der kolonialen Ausbeutung zu illustrieren, macht der Kolonialherrn aus dem Kolonisierten eine Art Quintessenz des Bösen. Die kolonisierte Gesellschaft

wird nicht nur als eine Gesellschaft ohne Werte beschrieben. Es genügt dem Kolonialherrn nicht zu behaupten, die Werte hätten die kolonisierte Welt verlassen, oder besser, es habe sie dort niemals gegeben. Der Eingeborene heißt es, ist für die Ethik unerreichbar, ist Abwesenheit von Werten,

aber auch Negation der Werte. Er ist, sagen wir es offen, der Feind der Werte. Insofern ist er das absolute Übel: ein zersetzendes Element, das alles, was mit ihm in Berührung kommt, zerstört, alles, was mit Ästhetik oder Moral zu tun hat, deformiert und verunstaltet, ein Hort unheilvoller Kräfte, ein unbewusstes und nicht fassbares Instrument blinder Gewalten ... In der Tat, die Werte werden unwiderruflich vergiftet und infiziert, sobald man sie mit dem kolonisierten Blick in

Kontakt bringt. Die Sitten des Kolonisierten, seine Traditionen, seine Mythen, vor allem seine Mythen, sind selbst das Zeichen dieser Armut, dieser konstitutionellen Verderbtheit“ (1986, S. 181).

Im Mittelpunkt dieses Bösen stehen in praktischer Hinsicht Stasi-Zubehörigkeit und SED-(PDS-)Mitgliedschaft, in theoretischer Hinsicht MARX, ENGELS und LENIN, deren Werke zusammen mit denen der Weltliteratur containerweise auf den Müllkippen landeten. (Beim Abbau des Berliner Lenin-Denkmals wurde dieses mit Hitler-Denkmälern gleichgesetzt. Wenn überhaupt könnte man es mit Hindenburg-Denkmälern gleichsetzen, aber da ist Lenin nach wie vor Friedrich dem II., Bismarck oder Hindenburg aus vielen Gründen vorzuziehen, ohne, dass man deren Denkmäler abbauen müsste). Und in kultureller Hinsicht geht es gegen den DDR-spezifischen

Humanismus. Die Künste, so das „Antieiszeitkomitee“ (ND v. 28.11.91, S. 2), waren Ort des geistigen Einspruchs. Ihre Auswirkungen waren politisch. „Der vielzitierte demokratische

Charakter der Kultur, hier war er wirksam“. Für das Komitee stellt die Malerin Heidrun HEGENWALD fest: „Im Erstschlag einer Kolonisierungspolitik wird dabei eine historisch

gewachsene Soziokultur abgewickelt.“ Und Bernd RUMP bemerkt im gleichen Papier „Erst die SED-Loyalen, dann die DDR-Kritischen, nun selbst die Prenzlauer-Berg-Dissidentenszene. Die Sieger sind sich nicht sicher, sie wissen um die Gefährdung ihres Sieges durch die Kultur. Die

Furcht muss groß sein, dass da etwas ist, was schwer zu treffen ist: Humus, geistige, kritische Gärungsmasse“ (ebd.). Dem ist wenig hinzuzufügen. Indem der Kolonisierte nicht mehr Subjekt der Geschichte ist, so MEMMI, wohl aber deren Lasten trägt, gewöhnt er sich schließlich jede aktive Teilnahme an der Geschichte ab; er „scheint dazu

verdammt, mehr und mehr sein Gedächtnis zu verlieren“ (1980, S. 98).

Auf Seiten des Kolonisierten finden Anpassungsprozesse statt, die wir im Rahmen der oben herausgearbeiteten Bindungstypen untersuchen könnten. MEMMI selbst verwendet allerdings ein derartiges Instrumentarium nicht. Einige, wenige Bemerkungen zu dieser Anpassung:

Das Hauptbestreben des Kolonisierten ist es, dem „herrlichen Vorbild“ des Kolonisators gleichzukommen. „Aber aufgrund einer offensichtlichen Dialektik lehnt der Kolonisierte gerade in dem Augenblick, in dem er mit seinem Schicksal den größtmöglichen Kompromiss geschlossen hat, sich selbst mit der denkbar erbittersten Hartnäckigkeit ab“. So wird die Liebe zum Kolonisator „durch einen Komplex von Gefühlen aufrechterhalten, die von der Scham bis zum Selbsthass

reichen“ (Memmi 1980, S. 111). Und immer muss er sich des Spottes durch den Kolonisator gegenwärtig sein. „Wenn er brutal ist, dann sagt er, der Kolonisierte sei nicht mehr als ein Affe“ (S. 114). Daher kann auch die Befreiung des Kolonisierten „nur über eine Wiedergewinnung des Selbst und seiner eigenen Würde erfolgen“ (S. 117), d.h. er „verzichtet auf den Tabak, wenn dieser die Kolonialbanderole trägt“ (S. 118).

Die oben genannten empirischen Daten zur Situation in der DDR erhellen sich durch die Anwendung des Kolonisierungsparadigmas zum Teil als Prozeß, die eigene Würde wiederzugelangen. Sehr deutlich zeigen sich Verachtung des (linken) Kolonisators (verbunden mit

offener Verhöhnung) und Widerstandsbewusstsein des Kolonisierten in der Diskussion im FREITAG „Streit der Deutschen“, an den Beiträgen von Udo KNAPP und Mathias WEDEL, aus denen ich exemplarisch einige Gedanken wiedergeben möchte. Udo KNAPP (prominentes Mitglied der GRÜNEN) schreibt unter dem Titel „Hört bloß auf

zujammern. Die wehleidige Selbststilisierung der DDR-ler zu Opfern des Einigungsprozesses“: „Jetzt überlasen sie (die Revolutionäre des Herbstes 1989; W.J.), weil sie in ihrem eigenen Mitleid ersaufen, den Krauses und Schröders das Feld und pflegen antipolitische Ressentiments gegen alles

Neue.“ Statt einen „Idiotenbonus“ in Anspruch zu nehmen, sollen die DDR-ler sich aktiv im Westen einmischen. Wenn sie „wie Rumpelstilzchen im Märchen vor Wut ab und zu in die Erde fahren, weil sie ihren Willen wieder nicht bekommen, werden sicher alle todtraurig Trostpflästerchen erfinden“. Und: „Ich verstehe nicht, warum Mathias Wedel und seine Freunde

nicht froh darüber sind, dass sie diese scheiß DDR endlich vom Halse haben ...“ ((FREITAG Nr. 22

vom 24.5. 1991 S. 11). WEDEL hingegen hatte unter dem Titel „Die kalte Gleichgültigkeit des Westens“ vorher

geschrieben: „Was für ein Menschenschlag kommt uns aber da aus dem Westen entgegen, was hat der Wohlfahrtsstaat sich da erzogen! Devote Funktionierer (diese stille, scheinbar 'lockere ' Akzeptanz aller Hierarchien), auf private Idylle zurückgeworfene Autisten, durch Ausschluss aus der

Gesellschaft verblödete Frauen, renommiersüchtige Schnösel, Ausstattungsaffen.“ „Im Westen werden Beamte mobilisiert, als ginge es zur Verbannung in ein Lepra-Gebiet. Kaum da

angekommen, gründen sie auch schon Wessi-Clubs, in denen sie das Brauchtum ihrer Heimatgaue pflegen.“

Die Medien beschreiben „unisono ... den Osten als zivilisatorische Entgleisung, als Dreckhaufen, auf dem einige von Misswirtschaft und sozialistischer Schulbildung missbildete, antriebsschwache Geschöpfe (jeder zweite Stasi) in Giftpfützen und Ruinen herumstieren.“

„Teilen heißt bei ihnen dividieren, und das ist eine Rechenoperation und keine moralische Kategorie“ (FREITAG Nr. 21 vom 17.5.91, S. 13). Es ist, so denke ich, damit deutlich geworden, dass das Kolonisierungsparadigma neben den

anderen angeführten Paradigmen wichtige Aspekte des Massenbewussseins zu charakterisieren vermag. So finden wir z.B. in den letzten Aussagen von KNAPP und WEDEL exemplarisch die Polarität von Spott über die kolonisierten Affen („Idiotenbonus“!) und das erstarkende

Selbstbewußtsein, den Rückbezug auf die eigene Würde wieder, verbunden mit der Verachtung des Kolonisators. Es gibt viele Indikatoren dafür, dass dieser Prozeß in breiten Teilen der Bevölkerung vorhanden ist, wenn auch noch selten seine Stimme findet. Sicher hat Gisela KARAU recht, wenn

sie schreibt: „Das Bedürfnis nach Geschichten über unsere eigene Geschichte wird doch wieder wachsen, wenn sich die erste Gier nach dem Fremden, Bunten, Seichten gelegt hat, soviel möchte ich meinen Mitmenschen schon zutrauen dürfen“ (ND 20.7.90, S. 10). Zumindest wächst das

Bedürfnis nach dem Mithandeln in glaubhaften Geschichten, die sich in eine Dimension der Rückerlangung eigener Würde eingliedern. Exemplarisch ist der Widerstand gegen die fristlose Entlassung des Rektors der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, als Professor (vgl. ND vom 28.

und 30.11.91). In einer Veranstaltung zu dieser Entlassung im Audimax der Universität formulierte Rudolf BAHRO die Notwendigkeit eines solchen Bewusstseins der eigenen Würde: „Das wichtigste ist, dass wir uns zu dem bekennen, was in uns DDR ist.“ Und: „Wenn der Prozeß der Kolonisierung

der DDR nicht geistig gebrochen wird, nimmt es ein schlimmes Ende. Was ansteht, ist die geistige Anerkennung der DDR“ (ND vom 30.11. 1991).

Ich habe wenig Hoffnungen, dass der Westen diese vollziehen wird, zu sehr berührt dies die eigene, auf Verdrängung aufgebaute Identität. Weit eher dürfte es so werden, wie der oben zitierte SPIEGEL-Leserbriefschreiber es fürchtet: Auf den Kalten Krieg wird der Kalte Bürgerkrieg folgen. Krieg kann aber nur geführt werden, solange er moralisch gerechtfertigt werden kann. Vielleicht böte die gemeinsame Orientierung humanistischer Kräfte im neuen Deutschland die Gelegenheit, mehr gemäß der wirklichen Dimension von Moral zu handeln als nach den (verinnerlichten) Gebäuden der äußerlichen Vorschriften der Oberen. Diese wirkliche Moral ist für SARTRE „eine

dem ausgebeuteten Menschen eigene Dimension. Eine Partei (und darüber hinaus jede gesellschaftliche Bewegung; W.J.) hat sich nicht als Morallieferant anzusehen: sie muss sie

vielmehr daher beziehen, wo sie zu finden ist“ (1976, S. 34). Meine Hoffnung gegen jegliche Hoffnung ist, dass sie sich im wiedererwachenden Bewusstsein der eigenen Würde der DDRBürgerInnen ebenso wieder finden wird wie im Bewusstsein der durch Zerfall der Blöcke und Golfkrieg demoralisierten Friedenskräfte (und nicht nur dieser) im Westen.

 

 

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Uploaded on June 6, 2018
Taken on May 31, 2018