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Volkseigene Großtaten

Von Sero, Zahnrädern und Reagenzgläsern: Das Buch »Erfindungen aus der DDR«

Von Hagen Bonn

 

Die größten Erfindungen der DDR waren unsichtbar. Praktisch nicht vorhanden waren Lohnsteuer-, Sozialversicherungs- und Rentenkassenbürokratie, genauso Existenzangst. Scheidung in acht Wochen war kein Problem. Kaum ins Gewicht fielen auch die Konsumpreise, die zudem 40 Jahre lang stabil blieben. Wer heute ins Koma fällt und nach einem Jahr wieder aufwacht, merkt erst einmal nichts von dem »Sabbatjahr«. Wie gehabt kommen keine Krankenschwestern ins Fünfbettzimmer, wenn man den Knopf am Bett drückt, und im Radio laufen natürlich, was sonst, »die größten Hits der Siebziger, Achtziger und Neunziger!« Aber dann ... melden sich das Finanzamt, die Rentenkasse und die netten Herrn von den Inkassobüros. Wer jetzt nicht wieder ins Koma fällt, hat ein gutes Jahr lang Probleme am Hals. Das zum Sachstand!

 

Nun zum Ernst der Sache. Beginnen wir mit dem Sputnik-Schock (1957). Die Sowjetunion führte als Bezwingerin des Weltraums allen vor, dass Wissenschaft und Fortschritt die natürlichen Freunde des Sozialismus sind, sein müssen – bei Strafe des Untergangs! Die Systemkonfrontation der beiden Machtblöcke in Ost und West (1946–1989) wurde nirgends so unverhohlen und verbissen geführt wie auf dem Spielfeld der Erfinder, Neuerer und Produktivkraftfetischisten. Der Kapitalismus hatte da Vorteile, weil die Revolutionierung der Produktivkräfte in seiner DNA verankert ist. Sie ist ja seine historische Mission, die Steigerung der Produktivität sein Lebenselixier. Mit der Stationierung von Atombomben und fortschreitender Umweltzerstörung wurde dann aber auch das Marxsche Axiom verständlicher, nach dem die Produktionskräfte sich ab einem bestimmten Punkt immer mehr in Destruktionskräfte verwandeln.

 

Die oben erwähnten Großtaten der DDR – und ich habe noch nichts von Sport-, Kultur- und Kunstförderung gesagt –, führten einerseits zur einzigartigen Emanzipation der »Hauptproduktivkraft« Mensch; auf der anderen Seite standen immer größere Verluste in der rein materiellen Schlacht, wie sie zum Beispiel mit Zahnrädern und Reagenzgläsern geführt wurde. Bis zum Ende der DDR konnten wir eine »sozialistische Triebkraft« im Sinne eines selbstregulierenden ökonomischen Zwangs zur Weiterentwicklung der Produktion nicht finden. Unser Zusammenbruch hängt zentral mit dieser Leerstelle zusammen. Unser Fortschritt in Produktion und Neuerung kam über Ansätze leider nicht hinaus.

Um Schönheit und Größe dieser Ansätze geht es im Buch »Erfindungen aus der DDR«. Das Autorentrio nimmt uns mit auf große Fahrt. Wir ziehen quer durch die ostdeutsche Republik, kaum ein Winkel wird ausgelassen. Wir lesen über Sero (landesweites Verwertungssystem für Sekundärrohstoffe), denken automatisch das Jammertal von Grüner Punkt und Dosenpfand mit und realisieren, dass das Recycling des Kapitalismus im doppelten Sinne ein Problem ist.

Einige Seiten weiter stoßen wir auf die beliebten, weil Zeit und Energie sparenden Tempo-Erbsen, auf therapeutisches Spielzeug (VEB Sonni Sonneberg) und auf die unzerstörbaren Dederon-Einkaufsbeutel. Genau jene, die man zur Wendezeit verschämt gegen Aldi-Tüten eintauschte, weil man glaubte, das sei schicker. In der DDR gab es keine Plastiktüten, den Blauen Engel freilich auch nicht. Heute schwimmen Milliarden Plastiktüten tonnenschwer durch die Weltmeere – von Haien und Seepferdchen zu Recht argwöhnisch beobachtet.

Natürlich müsste ich jetzt auch über die Kittelschürzen aus Schwarza/Rudolstadt in Thüringen einiges sagen, aber wieso Eulen nach Athen tragen? Jüngere Zeitgenossen müssen nicht verzagen, unser Buch ist reich bebildert. Stimmungsvolle Fotos begleiten alle Kapitel, auch das zum grünen Pfeil, das umso interessanter ist, weil das Verkehrsleitzeichen heute noch in Gebrauch ist, Tendenz fallend ...

Die Autoren lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass, die damaligen Umstände eingerechnet, einiges auf die wackligen Beine gestellt wurde. Es handelte sich immer um ehrliche Bemühungen, und oft genug waren die Ergebnisse herzeigbar. Am Ende der Zeitreise haben wir uns erinnert, manchen Sachverhalt vertieft in Zusammenhänge eingeordnet, manche Humoreske zweimal gelesen und ein wenig besser verstanden, wie dieses kleine Land auf den Wogen des Klassenkampfes hin und her geworfen wurde, wie es sich tapfer wehrte, aufbäumte, heldenhaft gegen die Böen stemmte, um dann doch unterzugehen. Hier muss ich zwingend – der Stimmung wegen – unseren Thomas Müntzer zitieren: »Geschlagen kehren wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus«. Fürwahr, so soll es sein!

 

Mandy Ganske-Zapf/Dennis Grabowsky/Robert Kalimullin: Erfindungen aus der DDR. Bild und Heimat, Berlin 2018, 128 S., 14,99 Euro

 

(aus www.jungewelt.de/artikel/347402.sachbuch-volkseigene-gro%...)

 

 

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Uploaded on January 17, 2019
Taken on April 2, 2016