UNGLEICHZEITIGKEITEN
Nein, ich wurde nicht mit einer Kamera in der Hand geboren. Im Land meiner Herkunft pflegten die Menschen bis Ende der Achtziger Jahre sich nur ein einziges mal im Jahr ablichten zu lassen.
Das was der erste Mai.
Tag der Arbeit, Tag der Paraden, Tag der addrett gekleideten, Schleifchen im Haar tragenden Mädchen, Tag der weißen Socken und der auftrumpfenden, schwesterlichen Liebe. Tag der aufmüpfigen Blumen, deren zarte Stängel von der Last der öligen Hände, die sie andauernd anfassten, stöhnten. Der Tag, an dem der bleichgesichtige Photograph zum ersten und letzen mal aus seiner muffig-stählernen Dunkelkammer herauskroch. Eine magere Kakerlake, mit Tuberkulose andächtigem Husten...
Dieses alljährliche Szenario wäre umso erträglicher, hätte ich nicht dieses jene vergilbte schwarz-weiss Bild zu Gesicht bekommen. Längst in den hintergelegensten Ritzen meines Gehirns verborgen, zeigt es den Torso eines etwa anderthalb Jahre jungen Mädchens, das an der oberen Ecke einer Treppe steht. Den Kopf muss man sich ausmalen, denn er versteckt sich hinter einem vor dem Gesicht hochgezogenem weissen von Rüschen behaftetem Kleid. Eine genauso weisse Unterhose blitzt hervor, die den prallen, delligen Oberschenkeln Konturen verschenkt.
Das bin ich.
Blumen? Weit entfernt. Paraden? Nirgendwo zu sichten. Schleifchen? Ja, aber nicht im Haar.
Und nein, es ist nicht der erste Mai.
Und es ist auch nicht die Sonnenlicht scheuende Kakarlake, vor der ich lasziv mein femme-fatale im zarten Alter rauslasse.
- JoinedOctober 2007
- Current cityNew York
- CountryUSA
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