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Welch süß- und holder Gnadenstrahl / Oh, sweet beam of grace

Photo: Kirchenfenster in der evangelischen Oraniergedächtniskirche Wiesbaden-Biebrich / Window in protestant Oraniergedächtniskirche in Wiesbaden-Biebrich, Hesse

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Welch süß- und holder Gnadenstrahl

- Als er Gott um Beständigkeit im Guten anflehte -

 

1.) Welch süß- und holder Gnadenstrahl

Verwandelt mich von innen?

Was raubt mir so bald auf einmal

Die alten Wünsch und Sinnen?

Mein Herz ist froh, mein Geist wird frei

Und reißt der Lüste Band entzwei,

An dem er stark gehangen.

 

2.) Ach Gott, erhalt den guten Trieb

Und treib aus Funken Flammen.

Jetzt hab ich deine Rechte lieb,

Jetzt lern ich mich verdammen,

Jetzt find ich Lust in Kreuz und Pein:

Die Seele muss geläutert sein

Und über Felsen steigen.

 

3.) Lass jetzo die Barmherzigkeit,

Mein Vater, dich nicht halten,

Nein, lass vielmehr durch Schlag und Leid

Mein festes Herz zerspalten,

Schmeiß deinen Zorn in Fleisch und Blut,

Weil so ein Schmerzen linder tut

Als Balsam auf der Scheitel.

 

4.) Mein ewig Glücke kann kaum blühn,

Wofern ich ruhig lebe

Und, dort den rechten Schatz zu ziehn,

Mich nicht der Welt begebe.

Gewohnheit ist ein eisern Kleid,

Zerreiß es durch die Traurigkeit

Gewaltig starker Pfeile.

 

5.) Verflucht sei Sorgen, Fleiß und Zeit,

Die ich der Welt verpfändet

Und auf den Dienst der Eitelkeit

So sinnlos angewendet,

Verflucht sei alle Wissenschaft,

Die nicht mit deiner Weisheit Kraft

Des Nächsten Heil gebessert!

 

6.) Mein Heiland, hilf mir wider mich

Mit deiner Demut kämpfen

Und lehre mich vernünftiglich

Auch fremde Schwachheit dämpfen!

Komm, stelle meine Sünd ans Licht

Und lass dein holdes Angesicht

Mich stets zur Bessrung reizen.

 

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Johann Christian Günther (* 8. April 1695 in Striegau; † 15. März 1723 in Jena) war ein deutscher Lyriker. Der Sohn eines Arztes besuchte 1710 bis 1715 das Gymnasium in Schweidnitz/Schlesien, wo auch ein Jugenddrama von ihm aufgeführt wurde. Er verlobte sich mit Magdalena Eleonore Jachmann, der 'Leonore' seiner späteren Gedichte.

1715 nahm er, dem Wunsch des Vaters folgend, ein Medizinstudium in Wittenberg auf. Es kam zum Zerwürfnis mit dem Vater, da dieser Johanns Absicht, seinen Lebensunterhalt als Dichter zu bestreiten, strikt ablehnte. 1716 ließ sich Günther zum 'Poeta laureatus Caesareus' krönen, was mit solchen Unkosten verbunden war, dass er 1717 im Schuldgefängnis landete. Im gleichen Jahr ging er nach Leipzig, wo er sich an der Universität einschrieb. Er wurde von dem Schriftsteller und Historiker Johann Burckhardt Mencke gefördert, der von seiner bedeutenden Begabung überzeugt war, dem es aber 1719 nicht gelang, ihm eine Stelle als Hofdichter Augusts des Starken in Dresden zu beschaffen. Ein Versuch, sich 1720 als Arzt in Kreuzburg niederzulassen misslang, ebenso die Bemühung um eine Aussöhnung mit dem Vater. In der Folge lebte Johann Christian Günther als Gast bei den Familien verschiedener Studienfreunde. Er kehrte 1723, bereits krank, nach Jena zurück, wo er siebenundzwanzigjährig an Tuberkulose und an den fruchtlosen Versuchen, als Dichter Erfolg zu haben und sich mit seinem Vater auszusöhnen, unter erbärmlichen Umständen starb.

Günther gilt heute als bedeutendster deutscher Lyriker des frühen 18. Jahrhunderts. Formal dem Zeitalter des Barocks zuzuordnen, ist er aber wegen der starken inneren Bewegtheit, einer radikalen Ehrlichkeit in der Behandlung seiner Themen und der ausgesprochenen individuellen Prägung seiner Literatur bereits als Vorläufer der Epoche des Sturm und Drang zu bezeichnen. Die Encylopaedia Britannica nennt Günther einen der wichtigsten deutschen Lyriker zwischen dem Mittelalter und der Zeit des frühen Goethe.

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Johann Christian Günther (April 8, 1695 - March 15, 1723) was a German poet from Striegau in Lower Silesia. After attending the gymnasium at Schweidnitz, he was sent in 1715 by his father, a country doctor, to study medicine at Wittenberg; but he was idle and dissipated, had no taste for the profession chosen for him, and came to a complete rupture with his family. In 1717 he went to Leipzig, where he was befriended by Johann Burkhard Mencke (1674-1732), who recognized his genius; and there he published a poem on the peace of Passarowitz (concluded between the German emperor and the Porte in 1718) which acquired him reputation. A recommendation from Mencke to Frederick Augustus II of Saxony, king of Poland, proved worse than useless, as Günther appeared at the audience drunk. From that time he led an unsettled and dissipated life, sinking ever deeper into the slough of misery, until he died at Jena on March 15, 1723, when only in his 28th year. Goethe pronounces Günther to have been a poet in the fullest sense of the term. His lyric poems as a whole give evidence of deep and lively sensibility, fine imagination, clever wit, and a true ear for melody and rhythm; but an air of cynicism is more or less present in most of them, and dull or vulgar witticisms are not infrequently found side by side with the purest inspirations of his genius.

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Uploaded on November 21, 2009
Taken on February 11, 2007